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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Autoren: Lion Feucht Wanger
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mit guten Köpfen. Er denkt an die Photos mit den Köpfen, die Georg Teibschitz ihm gezeigt hat. Man kann nicht lachen, wenn man vor eine Dampfwalze gespannt ist und ziehen muß, es schneidet sehr in die Schultern ein, aber lächeln kann man; übrigens merkt man es nicht unter dem Krausbart. Wie langsam die Walze vorwärts kommt, furchtbar langsam. »Geh deinen langsamen Schritt, ewige Vorsehung.« Es heißt nicht »langsam«, »unmerklich« heißt es. »Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung.« Ärgerlich, daß er nicht weiter weiß. Dafür hat er jahrelang am Lessing gearbeitet, daß er jetzt den Satz nicht weiter weiß. Wohin die Straße wohl führt, über die sie die Walze ziehen? Sie bauten dem Pharao Städte, die Städte Piton und Ramses. Aber das hatte Sinn, die Straße hier scheint keinen zu haben. Hurra, jetzt weiß er, wie es weiter heißt: »Nur laß mich dieser Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln.« Daß ihm das eingefallen war, befriedigte ihn. Er zog leichter, und er dachte nicht mehr.
    Sybil war auch an diesem Tage da, und sie suchte die Gesichter der Gefangenen auf und ab. Es waren lauter bärtige Gesichter, fleckig die meisten, schwer zu erkennen. Es war seltsam, zu denken, daß einer dieser Männer in dem Haus an der Max-Reger-Straße eine Nacht wachgelegen hatte, weil er nicht die rechte Farbe für die Tapete fand, und daß er sich Gedanken gemacht hatte über den Tonfall eines Satzes, und daß sie mit ihm geschlafen hatte. Sie saß in ihrem kleinen, lächerlichen Wagen am Straßenrand, auf freiem Feld, der Boden war feucht, der Wagen eingesunken, sie wird sich schwer,tun, den Wagen da herauszukriegen. Sie saß da, dünn, kindlich, nachdenklich, und schaute aus ihren trüben Augen auf die Männer. Aber sie erkannte Gustav nicht.
    Für den zweitnächsten Tag hatte sie Besuchserlaubnis. Sie kam ins Lager. Man brachte sie in einen Besuchsraum. Hinter einer Schranke, geführt von zwei Landsknechten, erschien ein alter, abgezehrter, schmutziger Mensch. Sie erblaßte tief, sie erschrak bis ins Herz. Aber sie bezwang sich, sie lächelte. Das Lächeln war nicht so kindlich wie sonst, ihr langes Untergesicht zitterte, aber, immerhin, es war ein Lächeln. Dann jedoch – es war vielleicht unklug, denn dieser Mann hieß Georg Teibschitz, allein sie konnte sich nicht länger bezähmen, sie konnte ihn nicht bei seinem falschen Namen rufen – sagte sie, und ihre kleine, dünne Stimme war voll von Freude, Mitleid, Herzlichkeit, Hoffnung, Trost, gutem Anruf: »Hallo, Gustav.« – »Zu Befehl«, sagte der Mann erschreckt und hob den Arm vors Gesicht.
    Zwei Tage später wurde er entlassen. Jacques Lavendel bestand darauf, ihn sogleich über die Grenze zu schaffen; er hatte dafür gesorgt, daß der Ausreise des Herrn Georg Teibschitz nichts im Wege stand. In Begleitung eines Pflegers brachte er Gustav in das Sanatorium eines berühmten Herzspezialisten in der Nähe von Franzensbad in Böhmen.
    Sybil wäre gern mitgekommen. Aber Gutwetter bestand auf ihrer Rückkehr. Vorwurfsvoll, weinerlich geradezu, erklärte er am Telefon, sie habe nur drei oder vier Tage wegbleiben wollen, jetzt sei sie schon vierzehn Tage fort. Nun sie ihr Ziel erreicht habe, möge sie endlich auch an ihn denken. Es war dies, daß Gutwetter sich an sie gewöhnt hatte; ihre nüchterne, sachliche Art gab seinen kosmischen Erzeugnissen mehr Substanz. Er brauchte sie, er konnte ohne sie nicht mehr arbeiten. Sybil sah, wie ernst es ihm war. Gibt sie jetzt ihrem Gefühl nach und geht mit Gustav, dann entgleitet ihr Gutwetter vielleicht für immer. Sie beschloß, später zu Gustav zu gehen, und kehrte nach Berlin zurück.Zwei Monate später, zwei Wochen, nachdem Gustav Oppermann an debilitas cordis, das ist hochgradige Herzschwäche, gestorben war, erhielt Heinrich Lavendel von einem ihm unbekannten Herrn Carel Blaha aus Prag eine Postsendung, bestehend aus drei Stücken.
    Das erste Stück war ein Bericht Gustav Oppermanns über seine Erlebnisse in Deutschland. Der Bericht, siebenunddreißig engbeschriebene Maschinenseiten, enthielt detaillierte Angaben über Gewalttätigkeiten, die die völkischen Landsknechte in schwäbischen Gegenden begangen hatten, sowie eine genaue Schilderung des Konzentrationslagers Moosach. Jedes Werturteil war sorgfältig vermieden.
    Das zweite Stück war eine Postkarte. Der Text lautete: »Es ist uns aufgetragen, am Werke zu arbeiten, aber es ist uns nicht gegeben, es zu vollenden.« Unterzeichnet war
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