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Die Geliehene Zeit

Titel: Die Geliehene Zeit
Autoren: Diana Gabaldon
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trotzig einen Krimi aus dem Regal schnappte. Herausfordernd blickte er in die Runde, als würde er den Protest der Möbel erwarten, doch außer dem Zischen der Heizung hörte er nichts. Er schaltete sie aus, löschte das Licht und verließ mit dem Krimi unter dem Arm das Studierzimmer.
     
    Vom Wind zerzaust und vom Regen durchnäßt, kehrten wir von Loch Ness zu einem warmen Essen und dem gemütlich knisternden Kaminfeuer im Speisezimmer zurück. Brianna konnte sich schon bei den Rühreiern das Gähnen nicht verkneifen, und bald verließ sie mich, um ein heißes Bad zu nehmen. Ich blieb noch eine Weile unten, hielt ein Schwätzchen mit Mrs. Thomas, der Wirtin, und so war es schon fast zehn, als ich nach oben ging, um ebenfalls zu baden und mich schlafen zu legen.
    Brianna, die zu den Frühaufstehern gehörte, ging zeitig zu Bett, und als ich die Schlafzimmertür öffnete, empfing mich ihr leiser, gleichmäßiger Atem. Da ihr Schlaf auch tief war, ließ sie sich nicht davon stören, daß ich durchs Zimmer huschte, meine Kleider aufhängte und aufräumte. Auch der Rest des Hauses kam allmählich zur Ruhe, und so erschienen mir das Knistern und Rascheln, das meine Tätigkeit begleitete, übermäßig laut.
    Ich hatte eine Reihe von Franks Büchern mitgebracht, die ich der Bücherei von Inverness spenden wollte. Jetzt nahm ich einen Band nach dem anderen aus dem Koffer und legte sie auf mein Bett. Fünf Bücher mit festem Einband und glänzendem, buntem Schutzumschlag. Ansehnliche, gewichtige Werke mit je fünf- bis sechshundert Seiten, das Register und die Abbildungen nicht mitgerechnet.
    Die gesammelten Werke meines verstorbenen Ehemanns in ausgiebig mit Anmerkungen versehenen Ausgaben. Die Umschlagklappen zierten lobende Kommentare von Historikern. Nicht schlecht für ein Lebenswerk, dachte ich. Eine Leistung, auf die man stolz sein konnte. Bedeutsam, gewichtig, respekteinflößend.

    In der Pension war es ruhig, und die wenigen Gäste, die sich hier trotz der frühen Jahreszeit bereits eingemietet hatten, waren schon schlafen gegangen. Im anderen Bett seufzte Brianna im Schlaf kurz auf, bevor sie sich umdrehte. Lange Strähnen roten Haars waren über ihr Gesicht gebreitet, und unter ihrer Decke schaute ein schmaler Fuß hervor. Sanft deckte ich ihn zu.
    Den Impuls, seinem schlafenden Kind übers Gesicht zu streichen, verliert man nie, selbst wenn es inzwischen zu einer - wenn auch jungen - Frau herangewachsen ist, die einen um ein ganzes Stück überragt. Ich schob ihr die Haare aus dem Gesicht und streichelte ihre Stirn. Glücklich lächelte sie, ein Reflex, der ebensoschnell verschwunden war, wie er sich gezeigt hatte. Mein Lächeln blieb, als ich sie betrachtete und ihr wie unzählige Male zuvor zuflüsterte: »Mein Gott, du bist ihm so ähnlich!«
    Wie es mir fast schon zur Gewohnheit geworden war, schluckte ich den Kloß, der sich in meiner Kehle gebildet hatte, hinunter und nahm meinen Morgenmantel vom Stuhl. Obwohl im schottischen Hochland im April noch Eiseskälte herrschte, war ich noch nicht bereit, mich von der schützenden Wärme meines Betts umfangen zu lassen.
    Ich hatte die Wirtin gebeten, das Feuer im Wohnzimmer brennen zu lassen, und ihr versprochen, es vor dem Schlafengehen zu löschen. Nach einem letzten Blick auf den entspannt daliegenden Körper und das Gewirr des seidigen roten Haares auf der blauen Steppdecke zog ich leise die Tür hinter mir zu.
    »Auch nicht schlecht für ein Lebenswerk«, flüsterte ich im dunklen Flur vor mich hin. »Nicht ganz so gewichtig, aber verdammt respekteinflößend.«
    Der Wohnraum war dämmrig und gemütlich, das Feuer zu einer gleichmäßigen Flamme heruntergebrannt. Ich zog mir einen Sessel vor den Kamin und stellte die Füße aufs Gitter. Um mich herum erklangen all die Geräusche, die für unser modernes Leben typisch sind: das sanfte Surren des Kühlschranks aus dem Untergeschoß, das leise Zischen der Zentralheizung, die das Kaminfeuer zu einem überflüssigen Luxus machte, und auf der Straße das gelegentliche Vorbeirauschen eines Autos.
    Doch unter alldem lag die tiefe Stille der Nacht des schottischen Hochlands. Um sie ganz in mich aufzunehmen, saß ich unbeweglich. Zwanzig Jahre lang hatte ich sie nicht mehr gespürt, doch an
der tröstlichen Macht der von den Bergen umfangenen Dunkelheit hatte sich nichts geändert.
    Ich griff in die Tasche meines Morgenmantels und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus - eine Kopie der Liste, die ich Roger
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