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Die Geliehene Zeit

Titel: Die Geliehene Zeit
Autoren: Diana Gabaldon
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man jetzt zu ihm aufblicken muß«, verteidigte ich mich, »dann kann man einfach nicht anders.«
    »Mutter!« Aber sie bog sich vor Lachen.
    »Außerdem hat er einen knackigen Hintern«, bemerkte ich, um das Gespräch nicht einschlafen zu lassen. »Das ist mir jedenfalls aufgefallen, als er den Whisky holte.«
    »Mutter! Man kann dich hören!«
    Wir näherten uns der Bushaltestelle. Unter dem Schild warteten drei Frauen und ein älterer Herr im Tweedanzug. Neugierig drehten sie sich um, als wir näher kamen.
    »Hält hier der Bus, der zu den Lochs fährt?« fragte ich, während ich die verwirrende Fülle von Anschlägen und Postern betrachtete.
    »Aye«, erwiderte eine der Frauen freundlich. »Er müßte in etwa zehn Minuten kommen.« Sie musterte Brianna, deren Gesicht vor unterdrücktem Lachen rot angelaufen war. »Wollen Sie zum Loch Ness? Ist das Ihr erster Besuch?«
    Ich lächelte sie an. »Ich bin mit meinem Mann schon vor mehr als zwanzig Jahren über den Loch gefahren. Aber meine Tochter ist zum erstenmal in Schottland.«
    »Ach ja?« Interessiert kamen jetzt auch die anderen Frauen näher, freundlich gaben sie uns Tips und stellten Fragen, bis der gelbe Bus um die Ecke tuckerte.
    Beim Einsteigen blieb Brianna kurz stehen, um die malerischen grünen Hügel zu betrachten, hinter denen in der Ferne der bilderbuchblaue, von dunklen Nadelbäumen umstandene See hervorschimmerte.
    »Das wird ein Spaß«, meinte sie. »Glaubst du, wir sehen das Ungeheuer?«
    »Man kann nie wissen«, erwiderte ich.
     
    Den Rest des Tages erledigte Roger geistesabwesend eine Aufgabe nach der anderen. Die Bücher, die er der Gesellschaft zur Erhaltung der Altertümer überlassen wollte, quollen aus den Kartons, und der
vorsintflutliche Pritschenwagen des Reverend stand nach Rogers erfolglosem Versuch, den Motor zu starten, mit offener Motorhaube in der Einfahrt. Schließlich blieb Roger vor einer halb ausgetrunkenen Tasse Tee, in dem schon die Milch ausflockte, sitzen und starrte gedankenverloren in den Regen, der am späten Nachmittag eingesetzt hatte.
    Was zu tun war, stand ihm nur allzu deutlich vor Augen: endlich das Herz des Studierzimmers in Angriff nehmen. Und das waren nicht die Bücher, bei denen er lediglich entscheiden mußte, ob er sie behalten, der Gesellschaft zur Erhaltung der Altertümer übergeben oder der Bibliothek des ehemaligen College des Reverend überlassen wollte. Nein, früher oder später stand ihm der gigantische Schreibtisch des Reverend bevor, dessen Schubladen von Papieren überquollen, die in den zahllosen kleineren Fächern nicht mitgezählt. Hinzu kam die riesige Korkwand mit der Flut von Zetteln, deren Anblick selbst den stärksten Mann erbleichen lassen konnte.
    Abgesehen davon, daß er ganz allgemein keine Lust hatte aufzuräumen, hätte er sich auch viel lieber Claire Randalls Anliegen gewidmet.
    Das Projekt an sich war reizvoll, obwohl die Recherche sicher einigen Aufwand erforderte. Aber wenn er ehrlich war, war er nur aus einem Grund so bereitwillig auf Claire Randalls Projekt eingegangen: Er wollte zu Mrs. Thomas’ Pension gehen und Brianna seine Ergebnisse zu Füßen legen - gleich einem Ritter, der wohl ähnliches mit einem Drachenkopf getan hätte. Und selbst wenn diese Ergebnisse nicht überwältigend waren - er brauchte einen Vorwand, um sie wiederzusehen und mit ihr sprechen zu können.
    Jetzt fiel ihm auch wieder ein, woran sie ihn erinnerte: Sie und ihre Mutter waren von einem besonderen Flair umgeben, als würden sie über schärfere Konturen verfügen, als wären sie mit solcher Tiefe und Detailtreue gezeichnet, daß sie sich plastisch vom Hintergrund abhoben. Doch an Brianna faszinierten ihn außerdem die lebhaften Farben und die starke physische Präsenz, wie sie den Figuren des italienischen Malers Bronzino zu eigen waren - jene Figuren, die den Eindruck erwecken, als würden sie dem Betrachter mit ihren Blicken folgen und in der nächsten Minute ein Gespräch beginnen. Zwar hatte er eine Bronzino-Figur noch nie über einen Whisky die Nase rümpfen sehen, doch wenn es sie
gegeben hätte, wäre sie Brianna Randall bestimmt wie aus dem Gesicht geschnitten.
    »Zum Teufel noch mal!« fluchte Roger laut. »So lange kann es ja nicht dauern, wenn ich mir morgen mal die Archive im Culloden House anschaue. Und du«, sagte er zu dem Schreibtisch mit all seinen Verpflichtungen gewandt, »du mußt eben noch einen Tag ausharren. Du auch«, bekam die Pinnwand zu hören, während er sich
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