Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Geliehene Zeit

Titel: Die Geliehene Zeit
Autoren: Diana Gabaldon
Vom Netzwerk:
Übung, doch es hatte Zeiten gegeben, da war mir die Vorspiegelung falscher Tatsachen zur zweiten Natur geworden. Und Lügen ist wie Fahrradfahren: Man verlernt es nie.
    Daß mir das Herz bis zum Halse klopfte und mir sein Schlag in den Ohren dröhnte, lag also weniger an meinem Vorsatz, mir
Gillian Edgars Notizbuch anzueignen. Ich fürchtete mich vor dem, was ich darin finden würde.
    Wie mir Maître Raymond erklärt hatte, hängt es allein von den Menschen ab, die an einen Zauber glauben, wie mächtig und gefährlich er ist. Als ich am Nachmittag einen kurzen Blick auf Gillians Aufzeichnungen geworfen hatte, hatte ich bereits gesehen, daß sie aus einem Mischmasch aus Fakten, Spekulationen und überspannten Phantasievorstellungen bestanden, die nur für die Verfasserin Bedeutung besaßen. Und ich hatte einen beinahe körperlichen Widerwillen verspürt, es zu berühren. Denn da ich wußte, wer es geschrieben hatte, wußte ich auch, was es höchstwahrscheinlich darstellte: ein grimoire , das Zauberbuch einer Hexe.
    Doch wenn es irgendwo einen Hinweis auf Geillis Duncans augenblicklichen Aufenthaltsort gab, dann in diesen Zeilen. Und so unterdrückte ich mein Schaudern, schob das Buch unter meinen Mantel und klemmte es unter dem Ellenbogen fest.
    Als ich ungehindert auf der Straße anlangte, kam es mir vor, als würde ich eine Bombe bei mir tragen. Etwas, was mit äußerster Vorsicht behandelt werden mußte, damit es nicht explodierte.
    Eine Weile lief ich ziellos durch die Gegend. Schließlich steuerte ich ein kleines italienisches Restaurant mit einer Terrasse am Fluß an. Zwar war es kühl geworden, doch ein kleiner Elektroofen verbreitete wohlige Wärme, so daß man bis spätabends dort sitzen konnte. Ich bestellte ein Glas Chianti. Das Notizbuch lag auf der Papiertischdecke im Schatten des Brotkorbs vor mir.
    Der April neigte sich dem Ende zu. Nur noch wenige Tage bis Beltene, dem Maifest. Der gleiche Tag, an dem ich meine Reise in die Vergangenheit angetreten hatte. Vermutlich hing es mit diesem Datum zusammen - oder vielleicht nur mit der Jahreszeit? Mitte April war ich zurückgekehrt - in dieser Phase war die Zeitreise also möglich. Aber womöglich hatte die Jahreszeit auch gar nichts damit zu tun. Ich bestellte mir noch ein Glas Wein.
    Möglicherweise besaßen nur bestimmte Personen die Fähigkeit - irgend etwas Besonderes im Erbgut -, eine Schranke zu durchbrechen, die für alle anderen ein unüberwindbares Hindernis darstellte. Wer wußte das schon! Jamie war es nicht möglich gewesen, mir hingegen schon. Auch Geillis Duncan gehörte zu den Auserwählten - oder sollte demnächst dazu gehören. Oder auch nicht.

    Bei dem Gedanken an Roger Wakefield wurde mir ein wenig schummrig. Vielleicht sollte ich nicht nur trinken, sondern auch etwas essen.
    Der Besuch im Institut hatte mich davon überzeugt, daß Gillian ihre verhängnisvolle Reise noch nicht angetreten hatte. Denn jeder, der sich mit den Legenden der Highlands beschäftigte, wußte, daß Beltene näherrückte, und würde die Reise für diesen Zeitpunkt planen. Doch ich hatte keine Ahnung, wo sie stecken könnte, wenn sie nicht zu Hause war. Führte sie vielleicht irgendwelche Vorbereitungszeremonien durch, von denen sie bei Fionas modernen Druidinnen gehört hatte? Vielleicht enthielt das Notizbuch einen Hinweis darauf.
    Über meine eigenen Beweggründe war ich mir mittlerweile nicht mehr im klaren. Hatte ich Roger in die Suche nach Geillis verwikkelt, weil es die einzige Möglichkeit war, Brianna von der Wahrheit zu überzeugen?
    Aber wenn wir die Frau rechtzeitig aufspürten, hätte ich nur dann mein Ziel erreicht, wenn Gillian in die Vergangenheit zurückkehrte. Und dort in den Flammen starb.
    Als man Geillis als Hexe zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilte, hatte Jamie zu mir gesagt: »Traure nicht um sie, Sassenach. Sie war eine böse Frau.« Damals war es für mich relativ unwichtig gewesen, ob sie nur schlecht oder verrückt war. Sollte ich es nicht einfach dabei bewenden lassen und sie endlich ihrem Schicksal überlassen? Aber sie hatte mir einst das Leben gerettet. War ich es ihr trotz allem, was sie war - sein würde -, schuldig, ihr das Leben zu retten? Und auf diese Weise Roger zum Untergang verurteilen? Welches Recht hatte ich, mich immer wieder einzumischen?
    Es ist keine Frage des Rechts, Sassenach, hörte ich Jamie mit einer gewissen Unduldsamkeit sagen. Es ist eine Frage der Pflicht. Und der Ehre.
    »Der Ehre also«, sagte ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher