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Die Gejagte

Die Gejagte

Titel: Die Gejagte
Autoren: Lisa J. Smith
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mussten sie ihre Verzweiflung gespürt haben. Sie kannten sie viel zu gut – und waren herbeigeeilt, um sie zu retten. Jenny schenkte erst der einen, dann der anderen eine innige Umarmung.

    »Da Tom chinesisches Essen liebt, habe ich beschlossen, mich darum zu kümmern«, fuhr Audrey fort und warf etwas Kloßähnliches in den Wok. »Aber wo hast du bloß gesteckt, hmm? Bist du in irgendwelche Schwierigkeiten geraten?«
    »Oh … nein«, sagte Jenny. Wenn sie jetzt erzählte, dass sie sich in eine so gefährliche Gegend gewagt hatte, gäbe es nur eine gehörige Standpauke. Natürlich nicht von Dee – Deirdre Eliades Verwegenheit wurde nur noch von ihrem etwas schrägen Sinn für Humor übertroffen –, sondern von der allzeit praktischen Audrey Myers. »Ich hab nur ein Spiel für heute Abend gekauft – aber ich weiß nicht, ob wir es überhaupt brauchen werden.«
    »Warum denn nicht?«
    »Nun …« Auch dazu wollte sich Jenny lieber nicht genaueräußern. Sie wusste gar nicht, wie sie es hätte erklären sollen. Sie wusste nur, dass sie sich die Schachtel unbedingt ansehen musste, bevor noch jemand anders eintraf. »Vielleicht ist es ja stinklangweilig. Also, was kochst du denn Schönes?« Sie spähte in den Wok, um das Thema zu wechseln.
    »Oh, nur etwas mu shu rou und ein paar chūn juǎn .« Audrey bewegte sich wie immer voller Anmut durch die Küche, ohne dass auch nur ein einziger Fettspritzer ihre maßgeschneiderten Klamotten verunziert hätte. »Für euch Provinzler heißt das im Klartext: gebratenes Schweinefleisch und Frühlingsrollen. Außerdem gibt’s gebratenen Reis und Beilagen.«

    »Schweinefleisch«, wiederholte Dee und nahm einen genüsslichen Schluck von ihrem Lieblings-Energy-Drink, »ist Tod auf Rädern. Du musst im Fitnessstudio eine Woche lang Gewichte stemmen, um ein einziges Schweinekotelett wieder abzuarbeiten.«
    »Tom liebt es«, sagte Audrey knapp. »Und er sieht ganz okay aus.«
    Dee lachte aufreizend und plötzlich lag eine Art Feindseligkeit in der Luft.
    Jenny seufzte. »Ach, kommt schon, beruhigt euch. Könnt ihr nicht wenigstens für einen Tag im Jahr einen Waffenstillstand vereinbaren?«
    »Ich glaube nicht«, summte Audrey, während sie mit Essstäbchen geschickt eine Frühlingsrolle aus dem Wok fischte.
    Dees Zähne blitzten in ihrem dunklen Gesicht auf. »Und unseren Rekord ruinieren?«, fragte sie.
    »Hört mal, vor allem werde ich nicht zulassen, dass Toms Party ruiniert wird – nicht mal von meinen beiden besten Freundinnen. Verstanden?«
    »Oh, geh in dein Zimmer und mach dich schön«, erwiderte Audrey gelassen und griff nach einem Hackmesser.
    Die Schachtel, fuhr es Jenny durch den Kopf – aber sie musste sich tatsächlich erst umziehen. Sie sollte sich besser beeilen.

In ihrem Zimmer tauschte Jenny Pullover und Jeans gegen einen weichen cremefarbenen Rock, eine gewebte Leinenbluse und eine perlenbesetzte Batikweste, in der Hunderte von winzigen Goldfäden glitzerten.
    Ihr Blick wanderte zu einem weißen Stoffkaninchen auf der Kommode. Zwischen den Pfoten hielt das Kaninchen ein Gänseblümchen, dessen Mitte die Worte »Ich liebe dich« zierten. Ein Ostergeschenk von Tom, ein kitschiges Ding, aber sie wusste, dass sie es für immer behalten würde. Denn die Tatsache, dass er diese drei Worte nicht öffentlich hatte aussprechen wollen, machte dieses geheime Geständnis umso süßer.
    Seit sie sich erinnern konnte, war sie schrecklich in Tom verliebt gewesen. Wann immer sie an ihn dachte, durchzuckte sie ein plötzlicher, schneller süßer Schmerz, beinah zu schön, um es ertragen zu können. Das Gefühl breitete sich über ihren ganzen Körper aus, doch in ihrer Brust spürte sie es am deutlichsten. So war es schon seit der zweiten Klasse. Auf den Rahmen ihres Spiegels hatte sie lauter gemeinsame Fotos geklebt – Jenny und Tom kostümiert auf der Halloweenparty in der sechsten Klasse, auf dem Abschlussball der neunten Klasse, auf dem Ball vor zwei Wochen, am Strand … Sie waren schon so lange zusammen,
dass sie für alle anderen nur noch Tom-und-Jenny waren, eine Einheit.
    Wie immer erfüllte sie der bloße Gedanke an Tom mit wohliger Wärme. Doch diesmal spürte Jenny, dass irgendetwas an diesem behaglichen Gefühl nagte. Etwas zerrte daran und machte sie nachdenklich.
    Schon wieder diese Schachtel.
    Na gut, sie würde sie sich genauer ansehen. Und dann nur noch an die Party denken.
    Sie strich sich gerade mit der Bürste durchs Haar, als es flüchtig an
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