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Die Gejagte

Die Gejagte

Titel: Die Gejagte
Autoren: Lisa J. Smith
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erschreckend. Sie vergaß Toms Existenz.
    Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass Leute überhaupt so aussehen können. Echte Menschen. Aber vielleicht war er gar nicht real? Gott, sie musste aufhören, ihn anzustarren …
    Aber sie konnte nicht. Sie konnte sich nicht dagegen wehren. Diese Augen waren so blau wie das Herz einer Flamme. Nein … wie ein kilometertiefer Gletschersee. Nein …
    Der Junge drehte sich um und ging zur Theke. Der Gettoblaster verstummte. Stille erfüllte Jennys Ohren.
    »Kann ich dir helfen?«, wiederholte er mit höflicher Zurückhaltung.
    Jennys Wangen begannen zu glühen.
    Ohmeingott, was musste er von ihr denken?
    Sobald er seine Augen von ihr abgewandt hatte, kam sie wieder zu sich. Jetzt da sie ihm nicht mehr so nah war, konnte sie ihn etwas objektiver betrachten. Von wegen aus einer anderen Welt. Er war nur ein Junge, ungefähr in ihrem Alter: schlaksig, elegant und mit einer eindeutig gefährlichen Aura. Sein Haar war weißblond, an den Seiten kurz geschnitten, hinten etwas länger und über der Stirn so lang, dass es ihm in die Augen fiel. Er war ganz in Schwarz gekleidet, eine ziemlich seltsame Mischung aus Cyberpunk Lord Byron.

    Und er ist wunderschön, dachte Jenny, aber wen interessiert das schon? Als hättest du noch nie zuvor einen Jungen gesehen. Und das ausgerechnet an Toms Geburtstag …
    Sie begann, sich ein wenig zu schämen. Entweder sie erledigte hier jetzt rasch ihren Einkauf oder sie verschwand von hier. Beides wirkte gleichermaßen verlockend – nur dass ihre Verfolger vielleicht noch draußen waren.
    »Ich will ein Spiel kaufen«, sagte sie etwas zu laut. »Für eine Party – für meinen Freund.«
    Bei dem Wort Freund blinzelte er nicht einmal; vielmehr wirkte er noch unbeteiligter als zuvor. »Nur zu«, sagte er. Dann schien er sich doch noch zusammenzureißen und ein Geschäft machen zu wollen. »Irgendwas Spezielles?«
    »Nun …«
    »Wie wäre es mit Senet, dem ägyptischen Spiel des Todes?« , schlug er vor und deutete mit dem Kopf auf das emaillierte Kästchen mit den Hieroglyphen. »Oder mit I-Ching? Oder vielleicht möchtest du lieber Runen werfen?« Er griff nach einem Lederbecher und schüttelte ihn mit vielsagender Miene. Es klang, als schlügen darin winzige Knochen gegeneinander.
    »Nein, nichts in der Art.« Jenny war ziemlich nervös. Sie konnte nicht genau sagen, warum, aber irgendetwas an diesem Jungen versetzte sie in leise Alarmbereitschaft. Vielleicht war es einfach Zeit zu gehen.
    »Hmm – dann habe ich noch das alte tibetische ›Ziegen und Tiger‹-Spiel.« Er deutete auf das seltsam gemeißelte
Bronzebrett mit den winzigen Figürchen darauf. »Siehst du, die bösen Tiger pirschen sich an die unschuldigen kleinen Ziegen heran, und die unschuldigen kleinen Ziegen versuchen, den Tigern zu entkommen. Für zwei Spieler.«
    »Ich – nein.« Machte er sich etwa über sie lustig? Hatten seine Mundwinkel gerade leicht gezuckt? Jenny versuchte, so würdevoll wie möglich zu antworten: »Ich suche nach … einfach einem Spiel, das viele Leute gleichzeitig spielen können. Wie Montagsmaler oder Begrifferaten«, fügte sie trotzig hinzu. »Aber da du so was anscheinend nicht hast …«
    »Ich verstehe«, unterbrach er sie. »Diese Art von Spiel.« Plötzlich sah er sie von der Seite an und lächelte. Ein Lächeln, das Jenny noch nervöser machte als alles andere.
    Eindeutig Zeit zu gehen, dachte sie. Es war ihr egal, ob sich ihre beiden Verfolger immer noch draußen herumtrieben. »Danke«, sagte sie mit distanzierter Höflichkeit und wandte sich zur Tür um.
    »Rätsel«, sagte er da. Das Wort ließ sie gegen ihren Willen innehalten. Was um alles in der Welt meinte er damit?
    »Gefahr. Verführung. Furcht.« Jenny drehte sich wieder zu ihm um und starrte ihn an. Da war etwas beinahe Hypnotisches in seiner Stimme – wie Wasser, das über Felsen rauscht, war sie voller elementarer Musik. »Geheimnisse werden offenbart. Begierden enthüllt.« Er lächelte sie an und sprach das letzte Wort besonders deutlich aus: »Versuchung.«

    »Wovon redest du?«, fragte sie und bereitete sich darauf vor, ihn zu schlagen oder wegzurennen, falls er einen Schritt auf sie zumachte.
    Aber er tat es nicht. Seine Augen waren genauso unschuldig blau wie ein nordischer Fjord. »Von dem Spiel natürlich. Das ist es, was du willst, nicht wahr? Etwas … ganz Besonderes.«
    Etwas ganz Besonderes.
    Genau das, was sie selbst gedacht hatte.
    »Ich denke«, begann sie
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