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Die Geisel

Titel: Die Geisel
Autoren: Michael Katz Krefeld
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Eigentlich hatte es »Lorelei« geheißen, aber die Buchstaben waren mit einem großen weißen Kreuz übermalt worden. Unterhalb des Schilds hatte jemand erst kürzlich den Namen »Jolly Roger« geschrieben.
    Jetzt bestand kein Zweifel mehr. Hier war der Ort, an dem Søren Timmie versteckt hielt. »Timmie?«, rief sie. »Timmie, bist du da oben?«
    Da das Schiff auf der Seite lag, konnte sie sich über das Eisengeländer auf das Achterdeck hinaufziehen. Die Tür zum Ruderhaus hing schief in ihren Scharnieren. Maja schob sie vorsichtig auf und schaltete die Taschenlampe an. Die Batterien waren fast leer, so dass sie nur wenig erkennen konnte. Es stank ekelerregend nach verfaultem Holz und Dieselöl. Als sie über das offene Loch im Boden hinwegstieg, sah sie unter sich die verrostete Maschine. Zur Rechten des Steuerstands mit dem großen Holzsteuerrad führte eine schmale Treppe zur Kajüte hinab. Ihr schauderte bei dem Gedanken, was sich dort unten verbergen mochte. »Timmie? Bist du hier?«
    An Bord war es vollkommen still.
    Sie ging zur Treppe und leuchtete in die Bordküche. Auf dem Tisch neben der Spüle standen eine riesige Öllampe und ein Reservekanister. Vorsichtig stieg sie die Stufen hinunter. »Timmie?«, rief sie ins Dunkel.
    Keine Antwort.
    Sie nahm die Öllampe und sah, dass sie halb gefüllt war. Maja zog ihr Feuerzeug aus der Tasche und zündete sie an. Die Flamme schoss hoch nach oben, sie drehte sie ein wenig herunter. Vor der Kombüse befand sich der Salon. Das Inventar war herausgerissen. Tische und Bänke lagen kreuz und quer auf dem Boden und versperrten den Mittelgang.
    Maja hängte die Lampe an einen Deckenhaken und schob die Möbel beiseite, bis sie einen schmalen Durchgang geschaffen hatte. Dann nahm sie die Lampe vom Haken und bahnte sich ihren Weg zu einer Tür am anderen Ende des Salons. Die Tür klemmte, doch als sie ihr einen kräftigen Stoß gab, flog sie auf.
    Der Gestank in dem Raum war unbeschreiblich. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück. Auf der weißen Pritsche lag ein nackter, regungsloser Junge auf dem Rücken. Er war totenbleich. Ein Arm hing über dem Rand der Pritsche und ließ ihn wie eine Wachsfigur aussehen, die begonnen hatte zu schmelzen. Eine Schlinge lag um seinen Hals und hielt seinen Kopf ein wenig aufrecht. Seine Zunge hing schlaff aus einem Mundwinkel. Sie erkannte ihn sofort.
    »Timmie!«, rief sie.
    Maja stellte die Öllampe auf den Boden und setzte sich auf die Pritsche.
    Sie legte zwei Finger an seinen Hals und suchte nach seinem Puls. Doch entweder war er zu schwach, oder es gab keinen mehr. Sie presste ihr Ohr an Timmies Brustkorb und lauschte nach Herztönen. Nichts. Ihre Hand zitterte, als sie das Skalpell aus der Tasche zog. Vorsichtig durchtrennte sie die Leine um seinen Hals. Timmies Kopf glitt langsam nach hinten auf die Matratze. Trotz der unerträglichen Hitze in der Kajüte war er sehr kalt.
    Maja schob die Zunge in seinen Mund zurück und beatmete ihn. Als er keine Reaktion zeigte, setzte sie beide Hände auf seine Brust und begann mit einer Herzmassage. »Komm schon, Timmie …«
    Sie drückte so fest auf seinen Brustkorb, dass sie ihm fast die Rippen brach. »Komm schon, Timmie … Komm schon!« Ihre Kehle schnürte sich zusammen. »Verdammt, jetzt komm!« Doch er rührte sich nicht. Sie öffnete seinen Mund und beatmete ihn erneut.
    Mehr konnte sie nicht tun.
    Sie ließ ihren Blick durch die schmuddelige Kajüte schweifen. Es drehte sich ihr der Magen um, wenn sie daran dachte, dass Timmie hier so viele Tage eingesperrt gewesen war. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf und schlug mit einer Hand immer wieder auf die Matratze. »Das ist nicht fair«, hörte sie sich flüstern. »Das ist einfach nicht fair …«
    Dass Timmie auf diese Weise sterben musste. Dass es Menschen gab, die so böse waren. Dass das Leben so grausam war. Dass alles, was so schön war, sterben musste. Das war einfach nicht fair. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. Spürte, wie die Tränen über ihre Handflächen liefen.
    Da hörte sie neben sich ein leises Schnauben. Maja hob den Kopf und sah Timmie an. Er schluckte und blinzelte, als versuche er, sich von einem langen, tiefen Schlaf zu befreien. Doch es gelang ihm nicht, die Augen zu öffnen.
    »Timmie?«, sagte sie.
    Er war zu erschöpft, um zu antworten.
    Sie strich ihm über die Haare. »Ich bin gleich wieder da …«
    Sie lief in die Kombüse und kam mit ihrer Wasserflasche zurück. Es waren nur noch ein paar
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