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Die Geisel

Titel: Die Geisel
Autoren: Michael Katz Krefeld
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wurde, nicht ganz so trostlos gewesen. Dennoch musste sie unwillkürlich daran denken, mit wie viel Liebe sie Walthers Zimmer eingerichtet hatte. Und wie groß der Kontrast zu diesem traurigen Ambiente war.
    Sie ging zur Tür am anderen Ende des Saales. Dahinter lag der Waschraum. Über den Waschbecken waren vier Hähne in einer Reihe. Die Wände waren schmutzig, der Boden hatte sich durch die alten, undichten Rohre rostrot verfärbt. Sie schaute sich um. Von Privatsphäre konnte in Birkevang nicht die Rede sein.
    Maja kehrte in den Schlafsaal zurück. Hier war Søren also aufgewachsen. Von seinem neunten Lebensjahr an. Hier also war sein Zuhause gewesen, in dem Hook und seine Männer »ihr Unwesen trieben«, wie er geschrieben hatte. Ihr schauderte bei diesem Gedanken. Hatten sie sich damals die Stufen hinaufgeschlichen und sich an den Jungen vergangen? Oder war es in den Räumen im Erdgeschoss geschehen? Oder im Keller, durch den Maja vorhin gekommen war?
    Und vor allem - wer?
    Sie stieg zum Dachboden hinauf. Durch ein riesiges Loch im Dach, das sich unmittelbar über dem Treppenabsatz befand, fiel so viel Licht, dass sie die Taschenlampe ausschalten konnte. Geborstene Dachbalken und Ziegelsteine lagen auf einem Haufen und versperrten den Zugang zum eigentlichen Dachboden.
    Ein paar Waldtauben flatterten auf und hätten Maja beinahe zu Tode erschreckt, als sie durch das Loch nach draußen flogen. Sie lehnte sich keuchend an die Wand und atmete ein paar Mal tief durch. Das Dach musste schon vor mehreren Jahren eingestürzt sein, und es schien ihr wenig wahrscheinlich, dass Søren Timmie irgendwo zwischen all dem Schutt versteckt hatte. Sie hatte das ganze Gebäude vom Keller bis zum Dach abgesucht, ohne eine Spur des Jungen zu entdecken. Vielleicht hatte sie Sørens Botschaft missverstanden. Mit der »alten Heimat« konnte er natürlich auch seine Pflegeeltern gemeint haben. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als dies morgen zu untersuchen. Falls die Polizei ihr das gestatten würde. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie ein Wörtchen mit ihr zu reden hatten.
    Sie starrte durch das Loch nach draußen. Die letzten Strahlen der Sonne tauchten alles in ein rötliches Licht. Der nackte Birkenwald erstreckte sich bis zum Horizont. Fast sah es so aus, als stünde er in Flammen. Der Wind hatte aufgefrischt und rauschte in den Bäumen. In zwei-, dreihundert Metern Entfernung sah sie etwas zwischen den Stämmen schimmern. Es sah aus wie ein flaches Gebäude, aber sie war sich nicht sicher, was es war. Zum Kinderheim gehörte es vermutlich nicht, dazu war es zu weit entfernt. Dennoch wollte sie herausfinden, worum es sich handelte, ehe es dunkel wurde.
    Sie brauchte zwanzig Minuten, um aus dem Haus herauszukommen. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und die Dämmerung färbte alles blau. Es fiel ihr schwer, sich zu orientieren und zu entscheiden, welche Richtung sie einschlagen sollte. Aber sie hatte das Gefühl, dass das Gebäude, das sie gesehen hatte, in entgegengesetzter Richtung vom Haupteingang lag. Sie ging bis zum Ende des Grundstücks, suchte aber vergeblich nach einem Pfad zwischen den Bäumen. Also setzte sie sich aufs Geratewohl in Bewegung. Nachdem sie ein paar Minuten gegangen war, sah sie das Gebäude durch die Zweige schimmern. Doch erst als sie sich einer kleinen Lichtung näherte, begriff sie, was es war, das sie gesehen hatte. Es war kein Gebäude gewesen. Es war ein Schiff.
     
    Der alte Zollkreuzer lag auf der Backbordseite, als wäre er von einer plötzlich einsetzenden Ebbe überrascht worden. Die Holzböcke, die ihn aufrecht gehalten hatten, lagen als verrottetes Kleinholz um den Schiffsrumpf verstreut. Der Rost hatte sich überallhin ausgebreitet und verunstaltete ebenso den weißen Kajütaufbau wie die einst königsblauen Seiten des Kreuzers, der vermutlich schon seit vielen Jahren hier lag.
    Beim Anblick des gekenterten Schiffs im Wald schlug ihr das Herz bis zum Hals. Sie ahnte nicht, wie es dort gelandet war, doch konnte sie nur noch an eines denken - an die Worte in Sørens Brief: »Timmie ist der einsame Kapitän auf Hooks verlassenem Schiff.«
    Konnte es wirklich sein, dass sie Timmies Versteck gefunden hatte? Vorsichtig ging sie um den Bug herum und an der Seite des fünfzehn Meter langen Schiffes entlang.
    »Timmie?«, rief sie, während sie versuchte, über die Reling zu blicken.
    Niemand antwortete. Als sie das Heck erreichte, sah sie das Holzschild mit dem Namen des Schiffes.
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