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Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)

Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)

Titel: Die Geheimnisse des Brückenorakels: Himmelsauge (German Edition)
Autoren: Melissa Fairchild
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und kam mit quietschenden Bremsen direkt vor Avi zum Stehen. Der Fahrer – im dunklen Wageninneren kaum zu erkennen – rief ihm etwas zu.
    »Steig ein, Avi!«
    Kellens schwarze Augen weiteten sich. »Was soll das?«
    Avi brauchte nur einen Sekundenbruchteil, um zu beschließen, dem Fahrer zu vertrauen. Was bleibt mir sonst anderes übrig?
    Zwischen der rückwärtigen Tür des Taxis und dem Rollstuhl tat sich eine drei Meter breite Lücke auf. Avi warf sich aus dem Rollstuhl. Schmerz schoss durch sein Gipsbein, als es auf dem Asphalt aufkam, doch er streckte die Hand nach dem Türgriff aus, ohne darauf zu achten. Kurz befürchtete er zu stürzen, aber dann fasste seine Hand zu. Er riss die Tür auf und sprang hinein. »Fahren Sie!«, schrie er.
    Als der Fahrer Gas gab, wurde Avi gegen die Sitzlehne geschleudert. Während das Taxi sich zwischen geparkten Krankenwagen hindurchschlängelte, stieß die offene Wagentür gegen das Heck eines anderen Fahrzeugs und fiel zu. Avi spähte durch die Heckscheibe. Der Anblick ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren: Kellen verfolgte sie zu Fuß.
    Wie konnte das sein? Sie fuhren so schnell, dass nicht einmal das beste Rennpferd sie hätte einholen können. Und dennoch hatte dieser Mann – nein, so konnte man ihn nicht nennen – dieses Geschöpf mit langen Schritten bald die Heckscheibe des Taxis erreicht. Seine Fingernägel, die offenbar ausfahrbar waren wie Krallen, kratzten am Glas und hinterließen tiefe Furchen. Der Fahrer trat fester aufs Gas, aber Kellen hielt auf wundersame Weise Schritt. Das Taxi holperte über einige Temposchwellen und schlug mit dem Unterboden auf, so dass ihr Verfolger von Funken übersät wurde. Doch er ließ sich nicht abschütteln.
    Dann, am Haupttor des Krankenhauses angekommen, drückte der Fahrer richtig auf die Tube.
    Stumm fluchend musste Kellen sich endlich geschlagen geben. Das Taxi verließ das Krankenhausgelände und raste auf die Straße hinaus.
    Keuchend ließ Avi sich auf den Rücksitz sinken. Vom Fahrer konnte er nur den Hinterkopf ausmachen. War er ein Freund oder ein Feind? Eine wichtige Frage zwar, doch Avi brachte nicht die Kraft auf, sie zu stellen. Stattdessen schaute er zum anderen Fenster hinüber – und erlebte seinen zweiten Schrecken, als er vor sich das Gesicht eines Mädchens mit blonder Punkfrisur sah.
    Offenbar war er nicht der einzige Fahrgast.

    Das schwarze Taxi brauste durch die Straßen Londons. Überall erkannte Avi Anzeichen dafür, dass die Zeit anscheinend stehengeblieben war. Ein Schwarm Tauben, erstarrt in der Bewegung des Auffliegens, jeder Vogel auf der Stelle verharrend, wie an einem unsichtbaren Faden aufgehängt. Leuchtreklamen hatten sich in buntes Geflacker ohne Sinn verwandelt. Das Wasser eines Zierbrunnens erinnerte an schwerelose Perlen. Alles stand still, als hätte jemand den PAUSE-Knopf für das gesamte Universum gedrückt.
    Einschließlich den des Mädchens, das neben ihm saß.
    Er betrachtete ihr Profil. Sie war schätzungsweise in seinem Alter und nicht naturblond, denn unter den gebleichten Haarbüscheln lugten dunkle Ansätze hervor. In der Nase trug sie einen silbernen Knopf und einen Silberring in der Unterlippe, allerdings keine Ohrringe. Dazu ein kurzer rosafarbener Rock und eine schwarze Lederjacke. Sie schwankte mit den Bewegungen des Taxis hin und her. Als der Wagen um eine besonders scharfe Kurve bog, kippte sie so weit hinüber, dass Avi schon befürchtete, sie könnte fallen, und er streckte die Hand aus, um sie aufzufangen.
    »Nicht anfassen!« Zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch meldete sich der Fahrer zu Wort.
    Ruckartig zog Avi die Hand zurück. Das Mädchen neigte sich bis kurz vor dem Sturz, doch als der Fahrer das Lenkrad gerade ausrichtete, schwang sie wieder zurück. Zu spät stellte Avi fest, dass sie angeschnallt war. Während des gesamten Manövers hatte sie keine Miene verzogen.
    Obwohl Avi Hunderte von Fragen an den geheimnisvollen Taxifahrer hatte, schlug ihn die Szenerie draußen vor den Wagenfenstern in ihren Bann. Inzwischen rasten sie an einem Gebäude vorbei, das King’s Cross Station hieß. Überall wimmelte es von Autos – nur dass sich natürlich keines bewegte. Allerdings standen sie alle im Weg. Das schwarze Taxi quälte sich durch den stehenden Verkehrsstau und überfuhr rote Ampeln, die nicht mehr umspringen würden. Eine Diskothek hatte gerade geschlossen, und etwa hundert Nachtschwärmer waren beim Heraustreten auf die Straße erstarrt. Eine
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