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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise
Autoren: Isabel Abedi
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kleines Baby, unglaublich träge und geradezu beängstigend gutmütig.
Als Wanja klein war, hatte sie mit ihm die reinsten Zirkusvorstellungen veranstaltet. Rückwärtssaltos, Drehungen in der Luft, auf zwei Beinen über das Treppengeländer balancieren … das waren nur einige der Dinge, die der Kater mit sich hatte machen lassen.
»Das arme Tier«, hatte Jo geschimpft, aber Schröders Liebe zu Wanja war trotz all dieser Torturen immer gleich groß geblieben.
Inzwischen war Schröder ein alter Herr und zu keinen akrobatischen Glanzleistungen mehr fähig. Doch für Wanja war er Kuscheltier, Freund und Geschwisterersatz in einem. Er bohrte seine nasse Nase in Wanjas Hals und rieb sie laut schnurrend an ihrer Haut.
»Runter mit dir, du Bohrmaschine.« Wanja füllte Schröders Napf mit Wasser und fing an das Frühstücksgeschirr wegzuräumen.
Als Jo aus der Agentur nach Hause kam, war es schon nach acht.
»Was für ein Tag«, hörte Wanja sie im Hausflur stöhnen. Jo trat in die Küche, löste die Spange aus ihrem Haar, fuhr sich mit den Fingern durch die dicken Locken und bemerkte dann, dass sie mitten in der dreckigen Regenpfütze stand, die Wanja vergessen hatte aufzuwischen. »Verdammt, wie oft hab ich …«
»Ja, ja, reg dich ab.« Wanja hatte den Aufnehmer schon in der Hand. Jo stellte die Einkäufe auf den Tisch. Toastbrot, Fleischwurst, Eier, eine Flasche Saft und zwei Tütensuppen.
»Zu mehr war heute keine Zeit.«
Das Essen verlief schweigend und gleich danach stand Jo auf.
»Ich schmeiß mich ’ne Runde aufs Sofa. Mach du die Küche, okay?«
Wanja nickte. Widerstand war zwecklos. In dieser Stimmung gab es mit Jo keine Diskussion. Wahrscheinlich hatte sie mal wieder Stress mit ihrem Chef gehabt. »Stress« war Jos Lieblingswort, dicht gefolgt von »meine Nerven«.
»Gibt’s was im Fernsehen?« Wanja hatte die Küche fertig und stand in der Wohnzimmertür. Als Antwort erhielt sie ein leises Schnarchen. Jo war auf dem Sofa eingeschlafen.
»Ich hab heut den Schlüssel verloren«, sagte Wanja.
»Mmmmh.« Jo schmatzte, drehte sich um und schnarchte weiter.
    Im Wald konnte es nachts so still sein, dass man die Stille zu hören glaubte wie ein eigenes, völlig einzigartiges Geräusch. Wanja lag auf ihrem Bett und starrte auf die weißen Vorhänge. Ihr Fenster war leicht geöffnet, sodass die kühle, vom Regen gereinigte Nachtluft ins Zimmer wehte und den dünnen Vorhang zu einem großen weißen Ballon aufblies. Schröder schlief zu Wanjas Füßen und brummte behaglich im Traum vor sich hin.
    Wanja hatte kein Licht im Zimmer gemacht. Sie hatte beobachtet, wie sich die Dämmerung langsam in Dunkelheit verwandelte, und gehört, wie Jo irgendwann die Treppe hochgekommen und in ihrem Schlafzimmer verschwunden war.
    Nachdem der ganze unerfreuliche Tag noch einmal an Wanja vorübergezogen war, drehte sie sich auf die Seite und starrte den Radiowecker auf ihrem Nachttisch an. Jedes Mal, wenn sie nicht schlafen konnte, tat sie das, schon immer war diese Uhr ihr wirksamstes Schlafmittel gewesen.
    Das orangefarbene, knubbelige Gerät war bestimmt schon zwanzig Jahre alt und die weißen Ziffern, die durch ein Licht im Inneren des Weckers beleuchtet wurden, blätterten sich wie kleine Karteikarten nach hinten, wenn die Zeit, die sie anzeigten, verstrichen war. Dabei gaben sie ein leises Klacken von sich. War es zum Beispiel, wie jetzt, 23:48 Uhr, würde nach einer Minute die acht nach hinten klappen. Ihr Radiowecker teilte die Zeit in kleine Häppchen, während die Zeiger auf dem Ziffernblatt ihrer Armbanduhr die Zeit unendlich erscheinen ließen. Am liebsten mochte Wanja die Momente, wenn auf ihrem Radiowecker alle vier Ziffern auf einmal wegkippten und eine ganz neue Zeit erschien. In zwölf Minuten war es wieder so weit. In zwölf Minuten war es 00:00 Uhr und damit würde ein neuer Tag beginnen, der den alten auslöschen und Brittas Worte zumindest in den Hintergrund drängen würde. Du weißt ja nicht mal, wie deiner aussieht.
    Wanja kniff die Augen zusammen und versuchte zum unzähligsten Mal sich ein Bild von ihrem Vater zu machen. Wie oft hatte sie sich schon vor den Spiegel gestellt und da nach Spuren ihres Vaters gesucht. Die braune Löwenmähne hatte sie zweifellos von Jo geerbt, auch die Augenfarbe, aber die Augenform war eine völlig andere. Wanja hatte große Kulleraugen, die immer ein wenig erstaunt aussahen, und wenn sich das Licht in ihnen spiegelte, erkannte man in ihrem Grün winzige hellbraune Farbsprenkel,
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