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Die geheime Reise

Titel: Die geheime Reise
Autoren: Isabel Abedi
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als hätte jemand mit einem Pinsel darüber gespritzt. Jos Augen waren klein und flink, lagen dicht beieinander und wurden, wenn sie sich ärgerte, einen Ton dunkler. Auch Wanjas weiche Knubbelnase, die sich problemlos bis zur Oberlippe runterdrücken ließ, glich zu ihrem Ärger nicht der von Jo, sondern war eindeutig eine Hinterlassenschaft des Großvaters.
    Über ihren Vater wusste Wanja fast nichts. Und das »fast« war beinahe noch schlimmer als das »nichts«, weil sich das »fast« lediglich auf die schlechten Dinge bezog, die Wanja über ihren Vater hörte, vornehmlich von ihrer Großmutter.
    »Genau wie dein Vater«, sagte die, wenn Wanja den letzten Bissen auf dem Teller liegen ließ – was Wanja aus Trotz längst zu einer Gewohnheit hatte werden lassen. »Genau wie dein Vater«, sagte ihre Großmutter auch, wenn Wanja verträumt in die Gegend schaute, ihre Sachen herumliegen ließ oder schwindelte. Auch die anderen Sätze über ihren Vater kannte Wanja auswendig.
    Sie ließen sich an einer Hand abzählen:
    1. Dein Vater war ein schlechter Mensch.
    2. Dein Vater hat Schande über unsere Familie gebracht.
    3. Dein Vater war ein Schwätzer.
    4. Dein Vater war ein Betrüger.
    5. Dein Vater ist es nicht wert, dass man über ihn spricht.
    Den letzten Satz bekam Wanja immer dann von ihrer Großmutter zu hören, wenn sie etwas über ihren Vater herausfinden wollte. Zum Beispiel, wie er aussah, wo er wohnte, warum er Jo verlassen hatte oder ob er von Jo verlassen worden war.
    Wanjas Eltern hatten sich noch vor ihrer Geburt getrennt, mehr wusste sie nicht, denn selbst ihre sonst so aufgeschlossene Mutter presste bei diesem Thema verbissen die Lippen aufeinander.
    »Wenn du älter bist«, das war das Äußerste, worauf sich Jo beim letzten Mal eingelassen hatte, und das war jetzt mindestens zwei Jahre her. Wanja war nicht auf den Mund gefallen, aber bei diesem Thema schnürte ihr immer irgendwas die Kehle zu, obwohl sie als Zwölfeinhalbjährige inzwischen wirklich das Gefühl hatte, alt genug zu sein.
    Manchmal vergaß Wanja ihren Vater sogar, obwohl es natürlich seltsam ist, jemanden zu vergessen, den man nicht einmal kennt. Aber insgeheim beschäftigte er sie mehr als alles andere, dieser Mann ohne Gesicht und ohne Namen, den zu sehen Wanjas sehnlichster Wunsch war.
    Klack. Als Wanja die Augen öffnete, sprang der Wecker gerade auf 23:59 Uhr. In einer Minute ist Mitternacht, dachte sie und wartete irgendwie unruhig. Klackklack-klack-klack. Die weißen Ziffern kippten nach hinten. Und dann geschah es. Die vier Nullen, die jetzt nach vorne klappten, leuchteten. In einem tiefen Rot.
    Fassungslos starrte Wanja auf den Wecker. Sie rieb sich die Augen, doch die Ziffern blieben rot. Wie winzige Scheinwerfer durchbohrten sie die Dunkelheit.
    Und dann … sprang der Radiowecker an. Ein lauter Gong ertönte. Schröder schreckte aus dem Schlaf und schoss mit einem Satz unters Bett. Wanja dagegen war starr vor Schreck. Die Weckfunktion war ausgeschaltet, das erkannte sie deutlich, weil der weiße Punkt neben der Uhrzeit fehlte. Zwar war dieser Wecker schon ein paar Mal überraschend angesprungen, aber das hier war zu viel. Der Gong ertönte zum zweiten Mal und kurz darauf hörte Wanja die Stimme einer alten Frau.
    »Es ist mir eine große Ehre, dir heute ein besonderes Ereignis anzukündigen.«
    Wanja hielt den Atem an. Lauf weg, schrei um Hilfe, das kann doch alles nicht wahr sein, sagte ihr Kopf. Aber Wanja lief nicht weg. Sie schrie auch nicht um Hilfe. Denn irgendetwas hielt sie im Bann dieser leisen, rauen Stimme, die eine tiefe Ruhe ausstrahlte und Wanja auf eine ganz sonderbare Art berührte. Es war, als würde diese Frau von innen zu ihr sprechen und nicht aus dem Radio. Auch die Ansprache schien sich an Wanja ganz persönlich zu richten.
    »Nach nunmehr 100 Jahren Pause«, fuhr die Frau fort, »zeigt der Hüter der Bilder zum dritten Mal die Ausstellung Vaterbilder . Der erste Besuchstag findet Christi Himmelfahrt statt. Über die genaue Uhrzeit und den Ort werde ich dich noch informieren. Jetzt wünsche ich dir eine gute Nacht«.
    Die Stimme verstummte. Ein dritter Gongschlag ertönte. Dann war alles wieder ruhig. Nur ein wildes Klopfen jagte durch die Stille und es dauerte eine Weile, bis Wanja begriff, dass es ihr Herzschlag war. Tum-tum, tum-tum, tum-tum. Klack. Die rechte Null des Weckers kippte nach hinten, und als an ihrer Stelle eine Eins nach vorne kam, waren alle Ziffern wieder weiß. Es war 00:01
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