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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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letzte Mal, daß wir Julian sahen, an den ersten griechischen Satz, den ich lernte: Xαλεπὰ τὰ καλά. Schönheit ist rauh.
     
    Ich machte am Ende doch meine Prüfung in Hampden, und mein Hauptfach war Englische Literatur. Und dann ging ich nach Brooklyn, den Bauch verpflastert wie ein Gangster (»Na!« sagte der Professor. »Das hier ist Brooklyn Heights, nicht Bensonhurst!«), und verbrachte den Sommer dösend auf seinem Dach, wo ich Zigaretten rauchte, Proust las und von Tod und Trägheit und Schönheit und Zeit träumte. Die Schußwunde verheilte und hinterließ eine Brandnarbe auf meinem Bauch. Im Herbst kehrte ich zurück zur Schule: Es war ein trockener, prachtvoller September; Sie würden nicht glauben, wie schön die Bäume waren in jenem Jahr: klarer Himmel, laubübersäte Haine, und die Leute tuschelten, wenn ich vorbeikam.
    Francis kam in diesem Herbst nicht zurück zur Schule. Die Zwillinge auch nicht. Die Geschichte im Albemarle klärte sich einfach, erzählte sich selbst: Henry mit Selbstmordabsicht, ein Kampf um die Waffe, am Ende ich verwundet und er tot. In gewisser Weise fand ich es unfair gegen Henry, aber dann auch wieder nicht. Und ich fühlte mich auf eine obskure Art besser: Ich konnte
mich als Held sehen, wie ich mich furchtlos auf die Waffe stürzte, statt in der Flugbahn einer Kugel herumzulungern wie irgendein am Rande Stehender, der ich so wesentlich bin.
     
    Camilla nahm Charles am Tag von Henrys Beerdigung mit hinunter nach Virginia. Es war zufällig genau der Tag, an dem Henry und Charles vor Gericht hätten erscheinen müssen. Die Beerdigung fand in St. Louis statt. Von uns war niemand außer Francis dabei. Ich lag noch im Krankenhaus, halb im Delirium, und sah immer wieder das Weinglas über den Teppich rollen, sah die Eichenlaubtapete im Albemarle.
    Ein paar Tage zuvor war Henrys Mutter hereingekommen, um mich zu besuchen, nachdem sie weiter unten ihren eigenen Sohn in der Leichenkammer gesehen hatte. Ich wünschte, ich hätte mehr Erinnerung an ihren Besuch. Aber ich erinnere mich nur an eine hübsche Dame mit dunklem Haar und Henrys Augen: eine in einem Strom von Besuchern, reale wie geträumte, lebende wie tote, die in mein Zimmer herein- und wieder hinaustrieben und sich zu allen Zeiten um mein Bett drängten. Julian. Mein toter Großvater. Bunny, der sich mit gleichgültiger Miene die Fingernägel schnitt.
    Sie hielt meine Hand. Ich hatte versucht, ihrem Sohn das Leben zu retten. Ein Arzt war im Zimmer, eine oder zwei Krankenschwestern. Hinter ihrer Schulter sah ich Henry selbst; er stand in der Ecke und hatte seine alten Gärtnersachen an.
    Erst als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde und unter meinen Sachen den Schlüssel von Henrys Auto fand, erinnerte ich mich wieder an etwas von dem, was sie mir zu sagen versucht hatte. Bei der Durchsicht seiner Angelegenheiten hatte sie festgestellt, daß er vor seinem Tod dabeigewesen war, die Zulassung seines Wagens auf meinen Namen zu übertragen (was säuberlich zu unserer offiziellen Story paßte: Junger Mann mit Selbstmordabsichten gibt seine Habe weg; niemand, nicht einmal die Polizei, kam je auf die Idee, diese Großzügigkeit mit der Tatsache zu vereinbaren, daß Henry zur Zeit seines Todes glaubte, er sei in der Gefahr, sein Auto zu verlieren). Jedenfalls gehörte der BMW mir. Sie habe ihn selbst ausgesucht, erzählte sie mir, als Geschenk zu seinem neunzehnten Geburtstag. Sie könne es nicht ertragen, ihn zu verkaufen oder auch nur wiederzusehen. Das versuchte sie mir zu sagen, und dabei weinte sie leise an meinem Bett, während Henry im Schatten hinter ihr umhertappte und gedankenverloren
und unbemerkt von den Schwestern mit peinlicher Sorgfalt eine in Unordnung geratene Blumenvase neu richtete.
     
    Nach allem, was wir durchgemacht hatten, sollte man glauben, daß Francis, die Zwillinge und ich im Laufe der Jahre besser Kontakt bewahrt hätten. Aber nach Henrys Tod war es, als sei ein Faden, der uns miteinander verbunden hatte, abrupt durchtrennt worden, und kurz darauf begannen wir auseinanderzutreiben.
    Francis war den Sommer über, den ich in Brooklyn verbrachte, in Manhattan. In der ganzen Zeit telefonierten wir vielleicht fünfmal miteinander, und wir sahen uns zweimal, beide Male in einer Bar auf der Upper East Side, unmittelbar vor der Haustür des Apartments seiner Mutter dort. Er wagte sich nicht gern weit von zu Hause weg, sagte er; Menschenansammlungen machten ihn nervös, und er hatte oft das
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