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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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ich wild. Versuch’s doch mal mit dem Türknopf.
    Henry küßte Camilla noch einmal. »Ich liebe dich«, sagte er. Und laut rief er. »Kommen Sie herein.«
    Die Tür flog auf. Henry hob den Arm mit der Pistole. Er wird sie erschießen, dachte ich benommen; der Wirt und seine Frau hinter ihm dachten das gleiche, denn sie blieben wie angewurzelt stehen, als sie drei Schritt weiter hereingekommen waren – aber dann hörte ich Camilla schreien. »Nein , Henry!« und zu spät begriff ich, was er vorhatte.
    Er drückte sich die Pistole an die Schläfe und schoß zweimal.
Zwei flache Explosionen. Sie schleuderten seinen Kopf nach links. Ich glaube, es war der Rückstoß der Pistole, der den zweiten Schuß auslöste.
    Sein Mund klappte auf. Ein Luftzug, der durch die offene Tür hereinwehte, sog die Vorhänge in das offene Fenster. Ein, zwei Augenblicke lang schmiegten sie sich bebend an das Fliegengitter. Dann atmeten sie seufzend wieder aus. Henry preßte die Augen fest zu, seine Knie gaben nach, und er fiel mit dumpfem Schlag auf den Teppich.

EPILOG
    Ach, armer Gentleman,
Er sah nicht aus wie die Ruine seiner Jugend,
sondern wie die Ruine dieser Ruine.
    JOHN FORD
Das gebrochene Herz
    Es gelang mir, mich von der Französischprüfung in der folgenden Woche suspendieren zu lassen, und zwar dank der vorzüglichen Entschuldigung einer Schußwunde im Bauch.
    Im Krankenhaus sagten sie, ich hätte Glück gehabt, und vermutlich stimmte das. Die Kugel war glatt durch mich hindurchgefahren, hatte das Bauchfell nur um einen oder zwei Millimeter und die Milz um nicht viel mehr verfehlt und war etwa dreieinhalb Zentimeter weiter rechts von der Einschußstelle wieder ausgetreten. Ich lag flach auf dem Rücken im Krankenwagen, fühlte, wie die Sommernacht warm und geheimnisvoll vorüberraste – Kids auf Fahrrädern, Motten, die die Straßenlaternen umspukten –, und fragte mich, ob es das nun also war, ob sich das Leben so beschleunigte, wenn man im Begriff stand zu sterben. Blut floß reichlich, alle Empfindungen verblaßten an den Rändern. Ich dachte immer: wie komisch, diese dunkle Fahrt in die Unterwelt, und der Tunnel beleuchtet von Shell Oil und Burger King. Der Sanitäter, der hinten mitfuhr, war nicht viel älter als ich, ein Junge eigentlich, mit schlechter Haut und einem flaumigen kleinen Schnurrbart. Er hatte noch nie eine Schußwunde gesehen und fragte dauernd, wie es sich anfühlte – dumpf oder scharf? Pochen oder Brennen? In meinem Kopf drehte sich alles, und natürlich konnte ich ihm keinerlei zusammenhängende Antwort geben, aber ich erinnere mich, daß ich verschwommen dachte, daß es irgendwie so war wie beim ersten Mal, als ich betrunken war oder mit einem Mädchen schlief – nicht ganz das, was man erwartete, aber als es einmal so weit war, erkannte man auch, daß es nicht anders sein konnte. Neonlichter: Motel 6, Dairy Queen. Farben, so hell, daß sie mir fast das Herz brachen.
    Henry starb natürlich. Mit zwei Kugeln im Kopf, nehme ich an, blieb ihm nicht viel anderes übrig. Immerhin lebte er noch mehr als zwölf Stunden, eine Leistung, die die Ärzte in Erstaunen versetzte. (Ich selbst stand unter Beruhigungsmitteln; es ist das, was man mir
erzählte.) So schwere Verletzungen, meinten sie, hätten die meisten Menschen auf der Stelle getötet. Ich frage mich, ob das bedeutet, daß er nicht sterben wollte – und wenn nicht, weshalb er sich dann überhaupt erschossen hat. So schlimm die Sache aussah, dort im Albemarle – ich glaube immer noch, wir hätten es schon irgendwie wieder hingekriegt. Es war nicht Verzweiflung, die ihn dazu trieb. Und ich glaube auch nicht, daß es Angst war. Die Sache mit Julian lag ihm schwer auf dem Herzen; sie hatte ihn tief berührt. Ich glaube, er verspürte die Notwendigkeit einer großen Geste, die uns und ihm selbst beweisen würde, daß es tatsächlich möglich war, diese hehren, kalten Prinzipien, die Julian uns gelehrt hatte, zu leben: Pflicht , Frömmigkeit , Loyalität , Opferwille. Ich crinnere mich an sein Bild im Spiegel, als er die Pistole an den Kopf hob. Sein Gesichtsausdruck zeigte hingerissene Konzentration, Triumph, fast wie bei einem Turmspringer, der auf das Ende des Sprungbretts zuläuft: die Augen fest geschlossen, in freudiger Erwartung des großen Klatschens.
    Tatsächlich denke ich ziemlich oft darüber nach, über diesen Ausdruck in seinem Gesicht. Ich denke über vieles nach. Ich denke daran, wie ich das erste Mal eine Birke sah, an das
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