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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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    Wahrhaft, er sieht mir aus grad’ wie ein Zauberer.
    Als ich meine Dissertation über Tourneurs Des Rächers Tragödie schrieb, bekam ich den folgenden Brief von Francis.
    24. April
    Lieber Richard,
    ich wünschte, ich könnte sagen, es falle mir schwer, diesen Brief zu schreiben, aber das ist nicht so. Mein Leben befindet sich seit Jahren in einem Prozeß der Auflösung, und mir scheint, daß jetzt endlich die Zeit gekommen ist, das Ehrenhafte zu tun.
    Dies ist also für mich die letzte Gelegenheit, mit Dir zu sprechen, zumindest in dieser Welt. Sagen möchte ich Dir folgendes: Arbeite hart. Sei glücklich mit Sophie. [Er wußte nicht, daß wir uns schon getrennt hatten.] Vergib mir alles, was ich getan habe, aber besonders das, was ich nicht getan habe.
    Mais, vrai, j’ai trop pleuré! Les aubes sont navrantes. Was für ein trauriger und schöner Vers. Ich habe immer darauf gehofft, daß ich eines Tages Gelegenheit haben würde, ihn zu verwenden. Und vielleicht graut der Morgen weniger herzzerreißend in dem Land, in das ich nun bald reisen werde. Andererseits – für die Athener ist der Tod ja nur ein Schlaf. Bald werde ich es selbst wissen.
    Ich frage mich, ob ich Henry auf der anderen Seite sehen werde. Wenn ja, dann freue ich mich schon darauf, ihn zu fragen, weshalb zum Teufel er uns nicht einfach alle erschossen und es damit hinter uns gebracht hat.
    Nimm Dir das alles nicht allzu sehr zu Herzen. Wirklich nicht.
    In Fröhlichkeit
Francis
    Ich hatte ihn seit drei Jahren nicht gesehen. Der Brief war vier Tage zuvor in Boston abgestempelt. Ich ließ alles stehen und liegen, fuhr zum Flughafen und nahm das erste Flugzeug nach Boston. Ich fand Francis im Brigham and Women’s Hospital. Er hatte sich die Handgelenke mit einer Rasierklinge aufgeschnitten.
    Er sah furchtbar aus, bleich wie ein Leichnam. Das Hausmädchen, sagte er, hatte ihn in der Badewanne gefunden.
    Er hatte ein Privatzimmer. Regen trommelte an graue Fensterscheiben. Ich war schrecklich froh, ihn zu sehen, und er freute sich, glaube ich, genauso, weil er mich sah. Wir unterhielten uns stundenlang, über nichts Besonderes.
    »Hast du gehört, daß ich heiraten werde?« fragte er dann.
    »Nein«, sagte ich verblüfft.
    Ich dachte, es sei ein Witz. Aber er stemmte sich in seinem Bett hoch, wühlte in seinem Nachttisch und förderte eine Fotografie zutage, die er mir zeigte. Eine blauäugige Blondine, geschmackvoll gekleidet, Typ Marion.
    »Sie ist hübsch.«
    »Sie ist doof«, sagte Francis leidenschaftlich. »Ich hasse sie. Weißt du, wie meine Verwandten sie nennen? ›Das Schwarze Loch‹.«
    »Warum?«
    »Weil jedes Gespräch in einem Vakuum verschwindet, wenn sie hereinkommt.«
    »Wieso willst du sie dann heiraten?«
    Erst antwortete er nicht. Dann sagte er: »Ich hatte einen Geliebten. Einen Rechtsanwalt. Er trinkt ein bißchen, aber das ist okay. Er war in Harvard. Du würdest ihn mögen. Er heißt Kim.«
    »Und?«
    »Und mein Großvater hat es herausgekriegt. Auf die melodramatischste Art, die du dir nur vorstellen kannst.«
    Er griff nach einer Zigarette. Ich mußte sie ihm anzünden, wegen seiner Hände. Er hatte eine der Sehnen verletzt, die den Daumen bewegten.
    »So«, sagte er und blies eine Rauchwolke von sich. »Und jetzt muß ich heiraten.«
    »Was passiert sonst?«
    »Sonst sperrt mein Großvater mir den letzten Cent.«
    »Kommst du nicht allein zurecht?«
    »Nein.«
    Das sagte er mit solcher Sicherheit, daß es mich ärgerte.
    »Ich schon«, sagte ich.
    »Aber du bist auch daran gewöhnt.«
    In diesem Augenblick öffnete sich die Zimmertür einen Spaltbreit. Es war die Krankenschwester – keine vom Krankenhaus, sondern eine, die seine Mutter privat engagiert hatte.
    »Mr. Abernathy!« sagte sie fröhlich. »Mr. Abernathy, hier ist Besuch für Sie!«
    Francis schloß die Augen und öffnete sie wieder. »Das ist sie«, sagte er.
    Die Schwester zog sich zurück. Wir schauten einander an.
    »Mach’s nicht, Francis«, sagte ich.
    »Ich muß.«
    Die Tür ging auf, und die Blondine von dem Foto kam strahlend lächelnd hereingetanzt; sie trug einen pinkfarbenen Pullover, in den ein Schneeflockenmuster hineingestrickt war, und hatte das Haar mit einem pinkfarbenen Band zurückgebunden. Eigentlich war sie ganz hübsch. Sie hatte einen Arm voller Geschenke, darunter ein Teddybär, Fruchtgummis in Zellophan und Zeitschriften: Gentleman’s Quarterly , The Atlantic Monthly und Esquire. Gütiger Gott, dachte ich, seit wann
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