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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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Geschichtenerzählen zubringen, und unsere Geschichte sei die Erziehung unserer Helden
    PLATO
Die Republik, Buch II

PROLOG
    Der Schnee in den Bergen schmolz schon, und Bunny war seit ein paar Wochen tot, ehe uns der Ernst unserer Lage allmählich dämmerte. Er war zehn Tage tot gewesen, als sie ihn gefunden hatten, wissen Sie. Es war eine der größten Suchaktionen nach einem Vermißten in der Geschichte Vermonts – Staatspolizei, FBI, sogar ein Hubschrauber der Army; das College geschlossen, die Färberei in Hampden dichtgemacht; Leute, die aus New Hampshire, aus dem Staat New York, sogar noch aus Boston herbeikamen.
    Es ist schwer zu glauben, daß Henrys bescheidener Plan diesen unvorhergesehenen Ereignissen zum Trotz so gut funktionierte. Wir hatten nicht die Absicht gehabt, die Leiche an einem unauffindbaren Ort zu verstecken. Genau genommen hatten wir sie überhaupt nicht versteckt, sondern einfach liegengelassen, wo sie hingefallen war, in der Hoffnung darauf, daß irgendein Passant das Pech haben würde, über sie zu stolpern, ehe irgend jemand überhaupt gemerkt hatte, daß Bunny verschwunden war. Es war eine Geschichte, die sich selbst erzählte, einfach und gut: die losen Steine, der Leichnam am Grunde der Schlucht mit gebrochenem Hals, die schlammigen Rutschspuren von auf dem Weg nach unten in den Boden gestemmten Fersen – ein Wanderunfall, nicht mehr, nicht weniger, und dabei hätte man es belassen können, bei ein paar stillen Tränen und einer kleinen Beerdigung, wäre da nicht der Schnee gewesen, der in dieser Nacht fiel; der deckte ihn spurlos zu, und zehn Tage später, als es schließlich taute, da sahen die Staatspolizisten und das FBI und die Suchmannschaften aus der Stadt, daß sie allesamt über der Leiche hin und her gelaufen waren, bis der Schnee darüber wie Eis zusammengepreßt worden war.
     
    Es fällt schwer zu glauben, daß es zu einem solchen Aufruhr wegen einer Tat kam, für die ich teilweise verantwortlich war, und es fällt noch schwerer zu glauben, daß ich dort mitten hindurchspaziert bin – durch die Kameras, die Uniformen, die schwarzen Scharen,
die auf dem Mount Cataract wimmelten wie Ameisen in einer Zuckerschüssel –, ohne auch nur dem Funken eines Verdachts zu begegnen. Aber durch das alles hindurchzuspazieren war eine Sache; davonzuspazieren hat sich leider als eine völlig andere erwiesen, und obwohl ich mal dachte, ich hätte diese Schlucht an einem Aprilnachmittag vor langer Zeit für immer verlassen, bin ich da jetzt nicht mehr so sicher. Jetzt, wo die Suchtrupps weg sind und das Leben um mich herum wieder still geworden ist, weiß ich, daß ich mir vielleicht jahrelang eingebildet habe, woanders zu sein, daß ich aber in Wirklichkeit die ganze Zeit da war: oben am Rand der Schlucht, bei den schlammigen Wagenspuren im neuen Gras, wo der Himmel dunkel ist über den zitternden Apfelblüten und wo der erste Frosthauch des Schnees, der in der Nacht fallen wird, schon in der Luft hängt.
    Was macht ihr denn hier oben? hatte Bunny überrascht gefragt, als er uns vier sah, wie wir ihn erwarteten.
    Na, wir suchen nach neuen Farnen, hatte Henry gesagt.
    Und nachher standen wir flüsternd im Unterholz – ein letzter Blick auf die Leiche und ein letzter Blick in die Runde, keine Schlüssel fallen gelassen, keine Brille verloren, hat jeder alles? – und gingen dann im Gänsemarsch durch den Wald, und ich warf noch einen Blick zurück durch die Schößlinge, die sich hinter mir wieder aufrichteten und den Pfad verschlossen. Und so wie ich mich an den Rückweg und an die ersten, einsamen Schneeflocken erinnere, die durch die Fichten heruntergeweht kamen, daran, wie wir dankbar nacheinander in den Wagen kletterten und die Straße hinunterfuhren wie eine Familie in den Ferien, wobei Henry mit zusammengebissenen Zähnen durch die Schlaglöcher fuhr und wir anderen, über die Lehne gebeugt, plauderten wie die Kinder, so wie ich mich nur zu gut an die lange, schreckliche Nacht erinnere, die vor uns lag, und an die langen, schrecklichen Tage und Nächte, die darauf folgten, so brauche ich bis heute nur einen Blick über die Schulter zu werfen, und all die Jahre fallen von mir ab, und ich sehe sie wieder hinter mir, die Schlucht, wie sie sich in lauter Grün und Schwarz zwischen den Schößlingen erhebt, ein Bild, das mich nie verlassen wird.
    Ich nehme an, es gab eine Zeit in meinem Leben, da hätte ich eine beliebige Anzahl von Geschichten gewußt, aber jetzt gibt es keine
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