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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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reich. Sein Gehalt stiftet er dem College; allerdings nimmt er, glaube ich, aus steuerlichen Gründen einen Dollar pro Jahr.«
    »Oh«, sagte ich. Ich war zwar erst ein paar Tage in Hampden, aber ich war bereits an die offiziellen Berichte über finanzielle Engpässe, begrenzte Mittelausstattung und Kürzungen gewöhnt.
    »Nehmen Sie mich dagegen«, sagte Laforgue. »Ich unterrichte durchaus gern, aber ich habe eine Frau und eine Tochter, die in Franlireich zur Schule geht – da kommt einem das Geld gerade recht, nicht wahr?«
    »Vielleicht spreche ich trotzdem mit ihm.«
    Laforgue zuckte die Achseln. »Sie können es versuchen. Aber ich rate Ihnen, sich nicht anzumelden, denn wahrscheinlich wird er Sie dann nicht empfangen. Sein Name ist Julian Morrow.«
    Ich war nicht besonders versessen darauf gewesen, Griechisch zu nehmen, aber was Laforgue da erzählt hatte, faszinierte mich. Ich ging nach unten und betrat das erste Büro, das ich sah. Eine dünne, säuerlich aussehende Frau mit welken blonden Haaren saß am Schreibtisch im Vorzimmer und aß ein Sandwich.
    »Ich habe Mittagspause«, sagte sie. »Kommen Sie um zwei wieder.«
    »Entschuldigung. Ich suche nur das Zimmer eines Lehrers.«
    »Na, ich bin die Collegesekretärin, nicht die Information. Aber vielleicht weiß ich’s trotzdem. Wer ist es denn?«
    »Julian Morrow.«
    »Oh, der?« sagte sie überrascht. »Was wollen Sie von ihm? Er ist oben, nehme ich an, im Lyzeum.«
    »In welchem Zimmer?«
    »Ist der einzige Lehrer da. Hat es gern still und friedlich. Sie werden ihn schon finden.«
    Tatsächlich war es ganz und gar nicht einfach, das Lyzeum zu finden. Es war ein kleines Gebäude am Rande des Campus, alt und dermaßen mit Efeu bewachsen, daß es von der Landschaft ringsherum fast nicht zu unterscheiden war. Im Erdgeschoß lagen Hörsäle und Seminarräume, allesamt leer, mit sauberen Wandtafeln und frischgebohnerten Fußböden. Hilflos wanderte ich umher, bis ich schließlich in der hinteren Ecke des Hauses, klein und schlecht beleuchtet, die Treppe entdeckte.
    Oben stieß ich auf einen langen, verlassenen Korridor. Genußvoll hörte ich das Knarren meiner Schuhe auf dem Linoleum, als ich beherzt hindurchmarschierte und auf den geschlossenen Türen nach Namen oder Zahlen suchte, bis ich zu einer kam, an der ein Schildrahmen aus Messing angebracht war; darin steckte eine geprägte Karte mit der Aufschrift JULIAN MORROW. Ich blieb einen Moment stehen und klopfte dann dreimal kurz.
    Ein paar Augenblicke vergingen, und dann öffnete die weiße Tür sich einen Spaltbreit. Ein Gesicht schaute zu mir heraus. Es war ein kleines, weises Gesicht, wach und aufmerksam, und obwohl gewisse Züge Jugendlichkeit andeuteten – der elfenhafte Aufwärtsbogen der Augenbrauen, die energischen Konturen von Nase und Kinn und Mund –, war es doch keineswegs ein junges Gesicht, und das Haar war schneeweiß. Ich bin nicht schlecht darin, das Alter anderer Leute zu erraten, aber seines hätte ich nicht annähernd treffen können.
    Ich stand für einen Moment einfach da, während seine blauen Augen mich verblüfft anblinzelten.
    »Was kann ich für Sie tun?« Die Stimme klang vernünftig und freundlich, wie nette Erwachsene manchmal Kindern gegenüber klingen.
    »Ich ... also, mein Name ist Richard Papen ...«
    Er legte den Kopf auf die andere Seite und blinzelte noch einmal mit strahlenden Augen, liebenswürdig wie ein Spatz.
    »... und ich möchte in Ihre Altgriechisch-Klasse.«
    Seine Miene verschloß sich. »Oh. Tut mir leid.« Sein Ton schien, es war kaum zu glauben, anzudeuten, daß es ihm wirklich leid tat, mehr noch als mir. »Ich wüßte nicht, was mir besser gefallen würde, aber leider ist meine Klasse bereits voll.«
    Etwas an diesem anscheinend aufrichtigen Bedauern gab mir Mut. »Sicher gibt es doch da noch eine Möglichkeit«, sagte ich. »Ein Student mehr oder weniger ...«
    »Es tut mir schrecklich leid, Mr. Papen«, sagte er, und es klang fast, als tröste er mich über den Tod eines lieben Freundes und als versuche er mir klarzumachen, daß er außerstande sei, mir in irgendeiner Weise zu helfen. »Aber ich habe mich auf fünf Studenten beschränkt, und es wäre mir ganz unvorstellbar, einen weiteren dazuzunehmen.«
    »Fünf Studenten ist aber nicht sehr viel.«
    Er schüttelte den Kopf, schnell und mit geschlossenen Augen, als wären Beschwörungen mehr, als er zu ertragen vermöchte.
    »Wirklich, ich würde Sie zu gern nehmen, aber ich kann es nicht
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