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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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war, sondern Fensterglas enthielt, und daß seine Augen ein gut Teil schärfer waren als meine eigenen.) Er hieß Francis Abernathy.
    Und dann war da noch ein Paar, ein Junge und ein Mädchen. Ich sah sie oft zusammen, und anfangs dachte ich, sie gingen miteinander, bis ich sie eines Tages aus der Nähe sah und erkannte, daß sie Geschwister sein mußten. Später erfuhr ich, daß sie Zwillinge waren – die einzigen Zwillinge auf dem Campus. Sie hatten große Ähnlichkeit miteinander mit ihrem schweren dunkelblonden Haar und den androgynen Gesichtern, so klar, so fröhlich und so
ernst wie bei zwei flämischen Engeln. Und vielleicht das Ungewöhnlichste im Kontext von Hampden – wo es Pseudointellekt und Teenagerdekadenz im Überfluß gab und wo schwarze Kleidung de rigueur war – : Sie kleideten sich gern hell, vorzugsweise in Weiß. In diesen Schwärmen von Zigaretten und kultiviertem Dunkel tauchten sie hier und da auf wie Gestalten aus einer Allegorie oder wie die längst verstorbenen Festgäste irgendeiner vergessenen Gartenparty. Sie hießen Charles und Camilla Macaulay.
    Alle erschienen sie mir äußerst unnahbar. Aber ich beobachtete sie fasziniert, wann immer ich sie zufällig sah: Francis, der sich in einer Tür zu einer Katze bückte und mit ihr sprach; Henry, wie er am Steuer eines kleinen weißen BMW mit Julian auf dem Beifahrersitz vorüberflitzte; Bunny, als er sich oben aus einem Fenster lehnte und den Zwillingen unten auf dem Rasen etwas zubrüllte. Nach und nach kamen mir weitere Informationen zu Gehör. Francis Abernathy kam aus Boston und war den meisten Berichten zufolge ziemlich reich. Auch Henry, hieß es, sei reich; aber mehr noch, er war ein Sprachengenie. Er sprach mehrere alte und neue Sprachen und hatte eine Übersetzung des Anakreon samt Kommentar veröffentlicht, als er erst achtzehn war. Die Zwillinge hatten ein Apartment außerhalb des Campus und kamen irgendwoher aus dem Süden. Und Bunny Corcoran hatte die Angewohnheit, spät abends in seinem Zimmer mit voller Lautstärke Märsche von John Philip Sousa zu spielen.
    Das soll nicht bedeuten, daß ich mich mit all dem übermäßig viel beschäftigt hätte. Ich richtete mich zu jener Zeit im College ein; die Kurse hatten begonnen, und ich war mit meiner Arbeit beschäftigt. Mein Interesse an Julian Morrow und seinen Griechischstudenten war zwar noch wach, fing aber doch an zu schwinden, als sich etwas Merkwürdiges ereignete.
    Es geschah am Mittwoch morgen in meiner zweiten Woche auf dem Campus; ich war in der Bibliothek, um vor dem Elf-Uhr-Seminar ein paar Fotokopien für Dr. Roland zu machen. Nach etwa einer halben Stunde schwammen Lichtflecke vor meinen Augen, und als ich zur Theke am Eingang ging, um der Bibliothekarin den Kopiererschlüssel zurückzugeben, drehte ich mich um und sah sie – Bunny und die Zwillinge. Sie saßen an einem Tisch, der übersät war mit Papier, Federhaltern und Tintenfässern. An die Tintenfässer erinnere ich mich besonders, weil ich sie so bezaubernd fand, und auch die langen, schwarzen, geraden Federhalter, die unglaublich archaisch und unpraktisch aussahen. Charles trug
einen weißen Tennissweater, Camilla ein Sommerkleid mit einem Matrosenkragen und einen Strohhut. Bunnys Tweedjacke hing über der Stuhllehne, so daß man mehrere große Risse und Flecken im Futter sehen konnte. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch, eine Haarsträhne fiel ihm in die Augen, und gestreifte Ärmelhalter hielten die verknitterten Hemdsärmel. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und redeten leise miteinander.
    Ich wollte plötzlich wissen, was sie redeten. Also ging ich zu dem Bücherregal hinter ihrem Tisch – außen herum, als sei ich nicht sicher, was ich suchte, und dann ganz daran entlang, bis ich ihnen so nah war, daß ich Bunnys Arm hätte berühren können. Mit dem Rücken zu ihnen zog ich ein beliebiges Buch heraus – ein lächerliches soziologisches Lehrbuch, wie sich zeigte – und tat, als studiere ich das Register. Sekundäre Abweichung. Sekundäre Analyse. Sekundäre Gruppe. Sekundärschulen.
    »Ich weiß nicht«, sagte Camilla eben. »Wenn die Griechen nach Karthago segeln, dann müssen wir den Akkusativ nehmen. Erinnert ihr euch? Wohin segeln sie? So lautet die Regel.«
    »Kann nicht sein.« Das war Bunny. Seine Stimme klang nasal, zänkisch – W. C. Fields mit einer schlimmen Long-Island-Maulsperre. »Wir müssen hier nicht fragen: ›wohin‹, sondern ›wo‹ ist ihr Ziel. Ich wette, wir
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