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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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nicht bei uns im Kurs bist«, sagte Bunny.
    Angespanntes Schweigen.
    »Tja«, sagte Charles voller Unbehagen, »Julian ist komisch in solchen Dingen.«
    »Geh doch noch mal zu ihm«, sagte Bunny. »Bring ihm Blumen mit und sag ihm, daß du Platon liebst. Dann frißt er dir aus der Hand.«
    Wieder trat Schweigen ein, unfreundlicher jetzt als beim ersten Mal. Camilla lächelte, aber es galt eigentlich nicht mir – es war ein reizendes, zielloses Lächeln, durchaus unpersönlich, als wäre ich ein Kellner oder ein Verkäufer in einem Laden. Neben ihr lächelte Charles, der immer noch stand, ebenfalls und zog höflich eine Augenbraue hoch – eine Geste, die nervös hätte sein, die eigentlich alles mögliche hätte bedeuten können, die ich aber als Frage verstand: Ist noch was?
    Ich murmelte etwas und wollte mich abwenden, als Bunny – der in die entgegengesetzte Richtung starrte – seinen Arm vorschießen ließ und mich beim Handgelenk packte. »Warte«, sagte er.
    Erschrocken blickte ich hoch. Henry war gerade zur Tür hereingekommen  – mit schwarzem Anzug, Regenschirm und allem Drum und Dran.
    Als er am Tisch angelangt war, tat er, als ob er mich nicht sähe. »Hallo«, sagte er zu den anderen. »Seid ihr fertig?«
    Bunny deutete mit einer Kopfbewegung auf mich. »Schau mal, Henry, wir müssen dich mit jemandem bekannt machen.«
    Henry blickte auf. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Er schloß die Augen und öffnete sie wieder, als empfinde er es als ganz außerordentlich, daß jemand wie ich sich in sein Gesichtsfeld stellte.
    »Ja, ja«, sagte Bunny. »Dieser Mann heißt Richard – Richard wie?«
    »Papen.«
    »Ja, ja. Richard Papen. Studiert Griechisch.«
    Henry hob den Kopf und sah mich an. »Doch sicher nicht hier?«
    »Nein«, sagte ich und schaute ihm in die Augen, aber er starrte mich so unhöflich an, daß ich meinen Blick abwandte.
    »Ach, Henry, sieh dir das doch an«, sagte Charles hastig und raschelte wieder mit seinen Papieren. »Wir wollten hier den Dativ oder den Akkusativ benutzen, aber er schlägt den Lokativ vor.«
    Henry beugte sich über seine Schulter und inspizierte die Seite. »Hmm, ein archaischer Lokativ«, sagte er. »Äußerst homerisch. Natürlich wäre es grammatisch korrekt, aber es fällt vielleicht ein wenig aus dem Kontext.« Wieder hob er den Kopf, um mich zu mustern. Das Licht fiel in einem solchen Winkel herein, daß es auf seiner kleinen Brille blitzte und ich die Augen dahinter nicht sehen konnte. »Sehr interessant. Du bist also Homer-Student?«
    Ich hätte vielleicht ja gesagt, aber ich hatte das Gefühl, er würde mich mit Vergnügen bei einem Fehler erwischen und er würde mühelos dazu imstande sein. »Ich mag Homer«, sagte ich lahm.
    Er betrachtete mich mit eisigem Abscheu. »Ich liebe Homer«, sagte er. »Natürlich studieren wir hier moderneren Stoff, Platon etwa, die Tragödiendichter und so weiter.«
    Ich überlegte immer noch, was ich antworten sollte, als er desinteressiert wegschaute. »Wir sollten gehen«, sagte er.
    Charles schob seine Blätter zusammen und stand wieder auf; Camilla stand neben ihm, und diesmal reichte sie mir auch die
Hand. So Seite an Seite betrachtet waren sie einander wirklich sehr ähnlich, weniger vielleicht in ihrem Äußeren als vielmehr in Manieren und Haltung; es war eine Korrespondenz von Gesten, die wie Echos zwischen ihnen hin- und hersprangen, so daß ein Augenzwinkern wenig später in einem Lidzucken des anderen widerzuhallen schien. Ihre Augen waren vom gleichen Grau, intelligent und ruhig. Sie, fand ich, war sehr schön, auf eine verstörende, beinahe mittelalterliche Weise, die dem beiläufigen Betrachter gar nicht ersichtlich wäre.
    Bunny schob seinen Stuhl zurück und schlug mir zwischen die Schulterblätter. »Tja, Sir«, sagte er. »Wir müssen uns gelegentlich mal zusammensetzen und über Griechisch plaudern, was?«
    »Auf Wiedersehen«, sagte Henry mit einem Kopfnicken.
    »Auf Wiedersehen«, sagte ich. Sie spazierten davon, und ich blieb stehen, wo ich war, und sah ihnen nach, wie sie die Bibliothek verließen, in breiter Phalanx, Seite an Seite.
     
    Als ich ein paar Minuten später in Dr. Rolands Büro kam, um die Kopien abzuliefern, fragte ich ihn, ob er mir einen Vorschuß auf mein Hilfskraftgehalt geben könne.
    Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und richtete die wäßrigen, rotgeränderten Augen auf mich. »Nun, wissen Sie«, sagte er, »in den letzten zehn Jahren habe ich es mir zur
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