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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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einmal in Betracht ziehen«, sagte er. »Es tut mir schrecklich leid. Würden Sie mich jetzt bitte entschuldigen? Ich habe eine Studentin hier.«
     
    Mehr als eine Woche verging. Mein Unterricht fing an, und ich bekam einen Job bei einem Psychologieprofessor namens Dr. Roland. (Ich sollte ihm bei irgendwelchen unbestimmten »Forschungen« helfen, deren Natur ich aber nie herausbekam; er war ein alter, benebelter, unordentlich aussehender Knabe, ein Behaviorist, der die meiste Zeit über im Lehrerzimmer herumlungerte.) Und ich fand ein paar Freunde, die meisten davon Erstsemester, die in meinem Haus wohnten. Freunde ist vielleicht kein ganz zutreffendes Wort. Wir aßen zusammen, und wir sahen einander kommen und gehen, aber hauptsächlich verband uns die Tatsache, daß keiner von uns irgend jemanden kannte – eine Situation, die einem damals nicht einmal unbedingt unangenehm vorkam. Bei den wenigen Leuten, die ich kennengelernt hatte, die schon seit einer Weile in Hampden waren, erkundigte ich mich, was es mit Julian Morrow auf sich habe.
    Fast alle hatten schon von ihm gehört, und ich erhielt allerlei widersprüchliche, aber faszinierende Informationen: Er sei ein brillanter Mann; er sei ein Hochstapler; er habe kein College-Examen; er sei in den vierziger Jahren ein großer Intellektueller gewesen, befreundet mit Ezra Pound und T. S. Eliot; das Geld seiner Familie stamme aus einer Beteiligung an einer feinen Ostlcüstenbank oder, wie andere sagten, aus dem Erwerb von Pleite-Immobilien während der Depression; er habe sich in irgendeinem Krieg vor der Wehrpflicht gedrückt (was allerdings chronologisch schwer nachzuprüfen war); er habe Verbindungen zum Vatikan, zu einer abgesetzten Königsfamilie im Nahen Osten, zu Francos Spanien. Der Wahrheitsgehalt all dieser Spekulationen war natürlich nicht abzuschätzen, aber je mehr ich über Morrow hörte, desto größer wurde mein Interesse. Ich begann, auf dem Campus nach ihm und seiner kleinen Studentengruppe Ausschau zu halten. Es waren vier Jungen und ein Mädchen, und aus der Ferne betrachtet waren sie nicht weiter ungewöhnlich. Von nahem gesehen aber erwiesen sie sich als fesselnde Truppe – zumindest für mich, der ich noch nie etwas Vergleichbares gesehen hatte.
    Zwei der Jungen trugen Brillen, merkwürdigerweise von der gleichen Art: klein, altmodisch, rund und stahlgerändert. Der größere der beiden – und er war ziemlich groß, deutlich über eins
achtzig – war dunkelhaarig und hatte ein eckiges Kinn und grobe, blasse Haut. Er hätte gut aussehen können, wenn seine Züge weniger verbissen oder wenn seine Augen hinter den Brillengläsern nicht so ausdruckslos und leer gewesen wären. Er trug dunkle englische Anzüge und hatte stets einen Regenschirm bei sich (ein bizarrer Anblick in Hampden); er lief steif durch die Scharen von Hippies und Beatniks und Preppies und Punks und zeigte dabei die befangene Förmlichkeit einer alten Ballerina, was bei seiner Größe überraschte. »Henry Winter«, sagten meine Freunde, als ich auf ihn deutete, wie er in einiger Entfernung einen weiten Bogen um eine Gruppe Bongo-Spieler machte, die auf dem Rasen hockten.
    Der – nicht viel – kleinere der beiden war ein nachlässiger Blonder, rotwangig und kaugummikauend, von unerschütterlicher Fröhlichkeit, die Fäuste stets tief in den Taschen der an den Knien zerrissenen Hose. Er trug jeden Tag dieselbe Jacke, ein formloses braunes Tweedexemplar mit verschlissenen Ellbogen und zu kurzen Ärmeln, und sein sandblondes Haar war links gescheitelt, so daß immer eine lange Stirnlocke über das eine Auge fiel. Bunny Corcoran war sein Name, und Bunny war aus irgendeinem Grund die Abkürzung für Edmund. Seine Stimme war laut und quäkend und hallte weithin hörbar durch den Speisesaal.
    Der dritte Junge war der exotischste in der Gruppe. Eckig und elegant, bedenklich dünn, mit nervösen Händen, einem gewieften Albinogesicht und einem kurzen, flammenden Schopf von so rotem Haar, wie ich es noch nie gesehen hatte. Ich fand (irrtümlich), er kleide sich wie Alfred Douglas oder wie der Comte de Montesquieu: wunderschöne gestärkte Hemden mit französischen Manschetten, prachtvolle Krawatten, einen schwarzen Mantel, der sich im Gehen hinter ihm blähte und ihn aussehen ließ wie eine Kreuzung zwischen einem Studentenprinzen und Jack the Ripper. Einmal sah ich ihn zu meinem Entzücken sogar mit einem Kneifer. (Später fand ich heraus, daß dieser Kneifer keine echte Brille
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