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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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Unglücklichsein allein jener Stadt zuzuschreiben war. Vielleicht stimmte das auch zum Teil. Milton hat wohl bis zu einem gewissen Grad recht – der Geist ist ein eigener Ort und kann in sich die Hölle zum Himmel machen und so weiter –, aber es ist dennoch unbestreitbar, daß die Gründer von Plano ihre Stadt nicht gerade nach dem Paradies geformt hatten. Auf der High School machte ich es mir zur Gewohnheit, nach der Schule in Einkaufszentren herumzuspazieren, durch strahlend helle, kühle Geschosse zu taumeln, bis ich so geblendet war von Waren und Produlct-Codes, von Gängen und Rolltreppen, von Spiegeln und Musikberieselung und Lärm und Licht, daß in meinem Gehirn eine Sicherung durchbrannte und auf einmal alles völlig unverständlich wurde: wie Farbe ohne Form, wie ein Gestammel unzusammenhängender Moleküle. Dann wanderte
ich wie ein Zombie zum Parkplatz und fuhr zum Baseballstadion, wo ich aber nicht mal ausstieg, sondern mit den Händen am Lenkrad im Wagen sitzenblieb und auf den Stahlzaun und das gelbe Wintergras starrte, bis die Sonne unterging und es so dunkel wurde, daß ich nichts mehr sehen konnte.
    Zwar hatte ich die konfuse Vorstellung, daß meine Unzufriedenheit bohemehafter, unbestimmt marxistischer Natur sei (als Teenager spielte ich töricht den Sozialisten, hauptsächlich um meinen Vater zu ärgern), aber in Wirklichkeit begriff ich sie nicht annähernd, und ich wäre wütend geworden, wenn mir jemand gesagt hätte, wie sehr sie in Wirklichkeit puritanischen Ursprungs war. Vor kurzem habe ich in einem alten Notizbuch folgende Zeilen gefunden, geschrieben, als ich ungefähr achtzehn war: »Für mich umgibt diesen Ort ein fauliger Geruch, der faulige Geruch, den reife Früchte verströmen. Nirgendwo sind die scheußlichen Mechanismen von Geburt und Paarung und Tod – diese monströsen Aufwerfungen des Lebens, die die Griechen miasma , Gifthauch, nennen – jemals so roh oder auch so hübsch kaschiert gewesen, haben so viele Menschen ihr Vertrauen in Lügen gesetzt, in Unbeständigkeit, in den Tod Tod Tod.«
    Das ist, glaube ich, ziemlich starker Tobak. Wie das klingt, wäre ich, wenn ich in Kalifornien geblieben wäre, schließlich in einer Sekte gelandet oder hätte zumindest meine Ernährung irgendwelchen gespenstischen Einschränkungen unterworfen. Ich erinnere mich, daß ich um die gleiche Zeit etwas über Pythagoras las und ein paar seiner Ideen auf wunderliche Weise ansprechend fand – weiße Kleidung zu tragen, beispielsweise, oder die Abstinenz von allen Speisen, die eine Seele haben.
    Aber statt dessen landete ich an der Ostküste.
    Nach Hampden kam ich durch einen Winkelzug des Schicksals. Eines Abends im Verlauf langer Thanksgiving-Ferien mit schlechtem Wetter, Preiselbeeren aus der Dose und eintönig hindröhnenden Baseballspielen im Fernsehen ging ich nach einem Streit mit meinen Eltern auf mein Zimmer (worum es dabei ging, weiß ich nicht mehr, aber wir hatten immer Streit, um Geld und um die Schule), und ich wühlte in meinem Schrank und suchte meine Jacke, als sie herausgeflattert kam: eine Broschüre vom Hampden College, Hampden, Vermont.
    Sie war zwei Jahre alt, diese Broschüre. Auf der High School hatten mir viele Colleges Infomaterial geschickt, weil meine Ergebnisse bei den Studieneignungstests ziemlich gut gewesen waren
(leider nicht gut genug, um auf irgendein nennenswertes Stipendium hoffen zu dürfen), und die Broschüre hier hatte ich das letzte Schuljahr über in meinem Geometriebuch aufbewahrt.
    Ich weiß nicht, weshalb sie in meinem Wandschrank war. Vermutlich hatte ich sie aufgehoben, weil sie so hübsch war. Im letzten Schuljahr hatte ich Dutzende Stunden damit zugebracht, die Fotos zu studieren, als brauchte ich sie nur lange und sehnsüchtig genug anzustarren, und schon würde ich durch eine Art Osmose in ihre klare, reine Stille entrückt werden. Noch heute erinnere ich mich an diese Bilder wie an die Bilder in einem Märchenbuch, das man als Kind geliebt hat. Strahlende Wiesen, dunstige Berge in der Ferne; knöcheltief das Laub auf einer windüberwehten Herbststraße; Reisigfeuer und Nebel in den Tälern; Cellos, dunkle Fensterscheiben, Schnee.
    Hampden College, Hampden, Vermont. Gegründet 1895. (Das allein war schon staunenswert; in Plano kannte ich nichts, was lange vor 1962 gegründet worden wäre.) Studentenzahl: 500. Koedukation. Progressiv. Spezialisiert auf die Geisteswissenschaften. Äußerst wählerisch. »Hampden bietet einen abgerundeten
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