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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Autoren: Donna Tartt
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ihn selbstverständlich nicht in die Klinik schicken. Vielleicht, wenn wir ein Hotelzimmer besorgen könnten – nicht hier natürlich, sondern irgendwo anders –, und wenn wir eine vertrauenswürdige Person hätten, vielleicht jemanden, der nicht besonders gut Englisch spricht ...«
    Camilla sah krank aus. Sie saß zusammengesackt auf ihrem Stuhl. »Henry«, sagte sie, »was willst du denn machen? Ihn kidnappen?«
    »Kidnappen ist nicht das Wort, das ich benutzen würde.«
    »Ich habe Angst, daß ihm etwas passiert. Ich finde, wir sollten ihn suchen gehen.«
    »Wir haben die ganze Stadt nach ihm abgesucht«, sagte Francis. »Ich glaube, er ist nicht mehr in Hampden.«
    »Habt ihr im Krankenhaus angerufen?«
    »Nein.«
    »Ich denke, was wir wirklich tun sollten«, sagte Henry, »ist die Polizei anrufen. Nachfragen, ob ein Verkehrsunfall gemeldet worden ist. Glaubst du, Mr. Hatch ist bereit, zu erklären, daß er Charles den Wagen geliehen hat?«
    »Er hat Charles den Wagen geliehen.«
    »In diesem Fall«, sagte Henry, »dürfte es kein Problem geben. Es sei denn, natürlich, er wird wegen Alkohol am Steuer gestoppt.«
    »Oder wir finden ihn nicht.«
    »Von meinem Standpunkt aus«, meinte Henry, »könnte Charles zur Zeit nichts Besseres tun, als spurlos vom Antlitz der Erde zu verschwinden.«
    Plötzlich donnerte es laut und frenetisch an der Tür. Wir schauten einander an.
    Camillas Gesicht war ausdruckslos vor Erleichterung. »Charles«, sagte sie. »Charles «, und sie sprang auf und wollte zur Tür laufen. Aber niemand hatte hinter uns abgeschlossen, und ehe sie hinkam, flog die Tür krachend auf.
    Es war Charles. Er stand in der Tür und blinzelte betrunken im Zimmer umher, und ich war so überrascht und froh, ihn zu sehen, daß es einen Augenblick dauerte, bis ich begriff, daß er eine Pistole in der Hand hielt.
    Er kam herein und trat die Tür hinter sich zu. Er hatte die kleine Beretta, die Francis’ Tante in ihrem Nachttisch aufbewahrte und mit der wir im vergangenen Herbst Schießübungen gemacht hatten. Wie vom Donner gerührt, starrten wir ihn an.
    Schließlich sagte Camilla mit ziemlich fester Stimme: »Charles, was glaubst du, was du da machst?«
    »Aus dem Weg«, sagte Charles. Er war sehr betrunken.
    »Du bist also gekommen, um mich umzubringen«, sagte Henry. Er hielt seine Zigarette zwischen den Fingern und war bemerkenswert gefaßt. »Ist es so?«
    »Ja.«
    »Und was, glaubst du, wird das lösen?«
    »Du hast mein Leben ruiniert, du Schweinehund.« Er zielte mit der Pistole auf Henrys Gesicht. Mit einem flauen Gefühl fiel mir ein, was für ein guter Schütze er war, wie er die Einmachgläser reihenweise nacheinander zerschossen hatte.
    »Sei kein Idiot«, fauchte Henry, und ich spürte das erste Prickeln echter Panik im Nacken. Dieser streitsüchtige Kommandoton mochte bei Francis funktionieren, vielleicht sogar bei mir, aber im Umgang mit Charles war er eine Katastrophe. »Wenn jemand für deine Probleme verantwortlich ist, dann du selbst.«
    Ich wollte ihm sagen, er solle den Mund halten, aber bevor ich ein Wort herausbrachte, trat Camilla ihrem Bruder in den Weg. »Charles, gib mir die Pistole«, sagte sie.
    Er strich sich mit dem Unterarm die Haare aus den Augen und hielt die Pistole mit der anderen Hand bemerkenswert ruhig. »Ich sag’s dir, Milly.« Das war sein Kosename für sie, den er nur sehr selten benutzte. »Geh lieber aus dem Weg.«
    »Charles«, sagte Francis. Er war bleich wie ein Gespenst. »Setz dich hin. Trink ein Glas Wein. Laß uns das alles vergessen.«
    Das Fenster stand offen, und das Zirpen der Grillen wehte hart und kraftvoll herein.
    »Du Schwein«, sagte Charles und taumelte wild rückwärts; es dauerte einen Augenblick, bis ich erschrocken erkannte, daß er nicht Francis oder Henry meinte, sondern mich. »Ich hab’ dir vertraut. Und du hast ihm gesagt, wo ich war.«
    Ich war so starr vor Schrecken, daß ich nicht antworten konnte. Ich starrte ihn an und klapperte mit den Lidern.
    »Ich wußte, wo du warst«, sagte Henry kühl. »Wenn du mich erschießen willst, Charles, nur zu. Es wird das Dümmste sein, was du in deinem Leben je getan hast.«
    Was als nächstes passierte, dauerte nur einen Augenblick. Charles hob den Arm, und blitzschnell warf Francis, der ihm am nächsten stand, ihm ein Weinglas ins Gesicht. Gleichzeitig sprang Henry vom Stuhl hoch und stürzte sich auf ihn. Es knallte viermal schnell hintereinander, wie Platzpatronen. Mit dem zweiten Knall
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