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Die Galerie der Nachtigallen

Die Galerie der Nachtigallen

Titel: Die Galerie der Nachtigallen
Autoren: Paul Harding
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Ritters, dessen kornblumenblaue Augen
blicklos gen Himmel gestarrt hatten; das blonde Haar hatte das
Gesicht umrahmt wie ein Heiligenschein, und Athelstans
widerhakenbewehrter Pfeil hatte zwischen Helm und Halsberge tief in
der Kehle gesteckt. Auch für diesen unbekannten Kämpen
betete der Mönch, doch Schuld empfand er nicht. Das war Krieg
gewesen, und die Kirche lehrte, daß der Krieg Teil des
sündigen Menschenlebens war, das Vermächtnis von Adams
Unbotmäßigkeit.
    »O Gott, bin ich
denn ein Mörder?« flüsterte er und dachte daran,
wie er als Novize in Blackfriars nahe der Westmauer der Stadt sein
Gelübde gebrochen hatte und zum Bauernhof seines Vaters nach
Sussex geflohen war. Er hatte vom Krieg geträumt damals und
seinen jüngeren Bruder zu ähnlichen Phantasien
aufgestachelt. So hatten sie sich einer jener lustigen Banden von
Bogenschützen angeschlossen, die über die sonnigen,
staubigen Straßen von Sussex hinunter nach Dover marschiert
und über das glitzernde Meer gefahren waren, um auf den
grünen Feldern Frankreichs Ruhm zu ernten. Sein Bruder war
getötet worden, und Athelstan hatte die schaurige Nachricht
zum rotgemauerten Hof nach Sussex gebracht. Seine Eltern waren vor
Gram gestorben. Athelstan war nach Blackfriars zurückgekehrt,
hatte sich auf den kalten Steinboden des Kapitelhauses geworfen und
seine Sünden bekannt, um Absolution gebeten und Gott sein
Leben geweiht, als Wiedergutmachung für die schweren
Sünden, die er begangen hatte.
    »Eine Schuld,
größer als die Kains«, hatte der Pater Prior den
im Kapitelhaus versammelten Brüdern erklärt. »Kain
hat seinen Bruder ermordet. Athelstan hat sein Gelübde
gebrochen und den Tod seiner ganzen Familie
verschuldet.«
    »Pater!«
    Athelstan öffnete
rasch die Augen. Die Frau, die auf den Stufen kniete, schaute zu
ihm auf; ihr schönes Gesicht wirkte besorgt.
    »Pater, fehlt
Euch etwas?«
    »Nein,
Benedicta. Entschuldige.«
    Die Messe ging weiter,
und auf das Agnus Dei folgte die Kommunion.
Athelstan trug eine Hostie zu der wartenden Frau hinunter. Sie
legte den Kopf in den Nacken, schloß die Augen, öffnete
die vollen roten Lippen und streckte die Zunge hervor, damit
Athelstan den Leib Christi darauflegen könne. Er verharrte
einen Augenblick und bewunderte die makellose Schönheit: die
zarte, golden schimmernde Haut, die sich über hohe
Wangenknochen spannte; die langen Wimpern, dunklen
Schmetterlingsflügeln gleich, bebend geschlossen; den
geöffneten Mund mit den weißen, makellosen
Zähnen.
    »Und auch die
Wollust in deinem geistigen Auge ...«, ermahnte Athelstan
sich, legte behutsam der Frau die Hostie in den Mund und kehrte zum
Altar zurück. Der Kelch war geleert, der Schlußsegen
gesprochen, die Messe beendet. Godric rülpste in seiner
kleinen Nische; er schnaufte und bewegte sich im Schlaf.
Bonaventura streckte sich und miaute leise. Aber die Witwe
Benedicta kniete immer noch mit gesenktem Kopf.
    Athelstan räumte
den Altar ab. Als er aus der Sakristei zurückkam, tat sein
Herz einen Satz. Benedicta war noch da. Er ging zu ihr und setzte
sich neben sie auf die Altarstufe. »Geht es dir gut,
Benedicta?«
    In ihren dunklen Augen
stand stummes, spöttisches Gelächter.
    »Mir geht es
gut, Pater.«
    Sie wandte sich um und
streichelte Bonaventura sanft am Hals, daß der Kater vor
Behagen schnurrte. Dann warf sie Athelstan einen Blick
zu.
    »Eine Witwe und
ein Kater, Pater. Die Gemeinde von St. Erconwald wird nie reich
werden.« Ihr Gesicht wurde ernst. »In der Messe wart
Ihr abgelenkt. Was gab es denn?« Athelstan schaute weg.
»Nichts«, murmelte er. »Ich bin nur
müde.«
    »Wegen Eurer
Astrologie?«
    Er grinste. Dieses
Gespräch hatten sie schon oft geführt. Er rückte ein
Stück näher.
    »Astrologie,
Benedicta«, begann er mit gespielter Gewichtigkeit,
»ist der Glaube daran, daß Sterne und Planeten die
Stimmungen und Handlungen des Menschen beeinflussen. Der
große Aristoteles akzeptierte die Theorie der antiken
Chaldäer, nach der der Mensch ein Mikrokosmos all dessen ist,
was das Universum enthält. Demnach gibt es ein Band zwischen
jedem von uns und den Sternen am
Himmel.«       
    Benedictas Augen
weiteten sich in ironischer Bewunderung ob solcher
Gelehrsamkeit.
    »Die Astronomie
hingegen«, fuhr Athelstan fort, »ist das Studium der
Planeten und der Sterne.« Er streckte beide Hände aus.
»Es gibt zwei Denkschulen.« Er schob die flache linke
Hand vor. »Die Ägypter und einige andere glauben, die
Erde sei eine
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