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Die Galerie der Nachtigallen

Die Galerie der Nachtigallen

Titel: Die Galerie der Nachtigallen
Autoren: Paul Harding
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Brief an den Pater Prior bereits
angefangen hatte. Er griff nach dem Federkiel, überlegte eine
Weile und schrieb:
    Wie ich schon sagte,
Ehrwürdiger Vater: Meine Börse ist leer,
zusammengeschrumpft und so geizig wie die Seele eines Wucherers.
Meine Kollektenkästen sind gestohlen, und der Lettner ist
zerbrochen. Der Altar ist verschrammt und fleckig, und im
Kirchenschiff stehen oft große Wasserpfützen, denn unser
Dach möchte als Sieb wohl bessere Dienste leisten denn als
Regenschutz. Gott weiß, ich büße meine
Sünden. Ich scheine bis zum Hals in Mordtaten zu stecken,
blutig und furchtbar. Das stellt meinen Geist auf eine harte Probe
und erinnert mich an mein eigenes großes Verbrechen. Ich
diene den Menschen hier jetzt seit sechs Monaten und habe auch die
Pflichten übernommen, die Ihr mir aufgetragen habt: als
Kanzleigehilfe und Schreiber für Sir John Cranston zu arbeiten, den
Coroner der Stadt London.
    Immer wieder holt er
mich, und wir sitzen über der Leiche irgendeines Mannes, einer
Frau oder eines jammervoll erschlagenen Kindes. »War es Mord,
Selbstmord oder ein Unfall?« fragt er dann, und so nehmen die
furchtbaren Geschichten ihren Anfang. Oft ist der Tod eine Folge
der Dummheit: Eine Frau vergißt, wie gefährlich es
für ein Kind ist, auf der gepflasterten Straße zu
spielen, umherzutanzen zwischen den Hufeisen der Pferde oder den
knarrenden Rädern mächtiger Karren, die ihre Ware vom
Fluß heraufbringen. So wird dann das Kind getötet, der
kleine Körper zermalmt, zerschlagen und gezeichnet, derweil
die junge Seele hinausfährt zu ihrem Christus. Aber,
hochwürdiger Vater, es gibt schrecklichere Arten des Todes.
Betrunkene Männer in den Schänken: In ihren Bäuchen
schwappt billiges Ale, und ihre Seelen sind tot und schwarz wie die
finsterste Nacht, wenn sie aufeinander zutaumeln mit Schwert, Dolch
oder Knüppel. Ich zeichne alles genau auf. Doch jedes Wort,
das ich höre, jeder Satz, den ich schreibe, jeder Schauplatz
eines Mordes bringt mich zurück zu jenem blutgetränkten
Schlachtfeld für Edward, den Schwarzen Prinzen. Ich, ein
Ordensnovize, der sein Gelübde vor Gott gebrochen und seinen
jüngeren Bruder in der Krieg geführt hat. Jede Nacht
träume ich von dieser Schlacht, dem Gedränge der
Männer in ihren Rüstungen, den gesenkten Piken, Geschrei
und Gebrüll. Jedesmal löst sich der Alptraum auf wie ein
Nebelschleier über dem Fluß, und ich knie allein neben
dem Leichnam meines toten Bruders und schreie in die Finsternis
hinaus nach seiner Seele, auf daß sie zurückkehre. Aber
ich weiß, Hochwürdiger Vater, sie kommt nicht
mehr.       
    Athelstan schaute
prüfend auf die Worte, die er geschrieben hatte, legte den
Federkiel neben seinen Brief und ging zurück zum Chorgitter.
Er schaute hinüber zu Bonaventura, der sich
streckte.
    »Es ist nicht
böse gemeint, Bonaventura«, sagte er. »Ich meine,
Sir John ist - trotz seiner fülligen Gestalt, dem
pflaumenroten Gesicht, dem kahlen Schädel und den
wäßrigen Augen - im Grunde seines Herzens ein guter
Mann. Ein ehrlicher Beamter, ein rarer Vogel, der kein Schmiergeld
nimmt, sondern die Wahrheit will und mit unerschütterlicher
Geduld den Grund jedes Todesfalles sucht. Aber warum muß ich
ihn immer begleiten?«
    Athelstan setzte sich
wieder vor das Chorgitter. Welchen Sinn hatte es, die schrecklichen
Morde und Gewalttaten aufzuzählen, deren Zeuge er gewesen war?
Wenn Christus je nach London käme, dachte Athelstan, so
würde er sicher nach Southwark kommen, wo Armut und Verbrechen
wie zwei häßliche Brüder hockten oder Arm in Arm
durch die Straßen wanderten und ihren Gestank verbreiteten.
Bonaventura kam samtpfotig zu ihm herüber. Athelstan schaute
auf den Kater hinunter.
    »Vielleicht
sollte ich dem Pater Prior von dir erzählen,
Bonaventura«, sagte er und bewunderte den geschmeidigen
schwarzen Körper, die weiße Maske und Pfoten, das
zerfranste Ohr und das halbgeschlossene Auge des Gassenkaters, den
er adoptiert hatte.
    »Du bist ein
Söldner«, fuhr er fort und streichelte dem Kater sanft
über den Kopf. »Aber auch mein treuestes Pfarrkind.
Für einen Teller Milch und etwas Fisch sitzt du geduldig da,
wenn ich mit dir spreche, und in der Messe paßt du genau
auf.«
    Athelstan fuhr
zusammen, als er ein Geräusch hinter sich hörte. Er
spähte über das Chorgitter und merkte, wie dunkel es in
der Kirche inzwischen war. Das einzige Licht kam von einem
Kienspan, der vor der Madonnenstatue entzündet worden war.
Athelstan
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