Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Galerie der Nachtigallen

Die Galerie der Nachtigallen

Titel: Die Galerie der Nachtigallen
Autoren: Paul Harding
Vom Netzwerk:
gähnte. Er hatte in der vergangenen Nacht nicht
geschlafen. Er schloß nicht gern die Augen, um dann im Traum
wieder dem marmorweißen Gesicht seines Bruders zu begegnen,
der ihn mit glasigen Augen anstarrte. Statt dessen stieg er auf den
Kirchturm, um die Sterne zu beobachten, denn die Bewegungen des
Firmaments faszinierten ihn, seit er in Prior Bacons Observatorium
auf der Folly Bridge in Oxford begonnen hatte, sie zu studieren. Er
war müde und ein wenig besorgt, weil Godric, ein bekannter
Mörder und Attentäter, in der Kirche um Asyl gebeten
hatte. Der Mann lag jetzt wie ein Hund zusammengerollt in einem
Winkel der Kirche und schlief den Schlaf der Erschöpfung. Er
hatte Athelstans Abendbrot verschlungen, verkündet, daß
ihm nun wohl sei, und sich schlafen gelegt. »Wie kommt es
nur«, brummte Athelstan, »daß solche Leute so gut
schlafen können?« Godric hatte einen Mann umgebracht,
auf dem Markt erschlagen, ihm die Börse abgenommen und war
dann geflüchtet. Er hatte geglaubt, entkommen zu können,
doch er hatte das Pech gehabt, einer Gruppe von städtischen
Beamten mit ihrem Gefolge über den Weg zu laufen; die hatten
Zeter und Mordio geschrien und ihn bis St. Erconwald verfolgt.
Athelstan war gerade damit beschäftigt gewesen, den Lettner zu
reparieren, und hatte ihn hereingelassen, als er an die Tür
hämmerte. Godric hatte sich keuchend an ihm
vorbeigedrängt und mit seinem noch blutbeschmierten Dolch
gefuchtelt; er war durch das Kirchenschiff gerannt und hatte
geschrien: »Asyl, Asyl!« Die Beamten, die ihm auf den
Fersen gewesen waren, hatten die Kirche nicht betreten, aber - da
er Sir John Cranstons Schreiber war - erwartet, daß er ihnen
Godric auslieferte. Athelstan hatte sich geweigert.
    »Dies ist Gottes
Haus!« hatte er gerufen. »Es steht unter dem Schutz der
Heiligen Mutter Kirche und dem Dekret des
Königs!«
    Da hatten sie ihn und
Godric in Ruhe gelassen, aber eine Wache an der Pforte aufgestellt
und geschworen, den Mörder umzubringen, wenn er versuchen
sollte zu fliehen. Athelstan spähte hinüber. Godric
schlief noch immer. So bereitete er den Altar für die Messe
vor, legte das ziemlich zerfledderte Missale aus und stellte zwei
Kerzen auf, die so krumm waren, daß sie kaum allein stehen
konnten. Ein abgestoßener versilberter Kelch, die Patene und
zwei kleine Glaskrüge mit Wasser und Wein kamen auf das
makellos weiße Altartuch. Athelstan ging in die klamme
Sakristei, legte die Albe und den scharlachroten Chormantel
über, bekreuzigte sich und ging wieder hinaus, um die
Zeremonie der Messe zu beginnen, ein Priester vor Gott, der dem
Vater Christus in der Gestalt von Brot und Wein zum Opfer
darbrachte. Athelstan bekreuzigte sich und intonierte den
einleitenden Psalm.
    »Hintreten will
ich zum Altäre Gottes, zu Gott, der meine Jugend
erfreut.«
    Godric schnarchte
weiter und merkte nichts von dem Schauspiel, das wenige Schritte
neben ihm inszeniert wurde. Bonaventura strich um die Altarstufen
herum und leckte sich das Maul. Athelstan, der inzwischen vom
Wohlklang der Gottesdienstworte ergriffen war, verlas schwungvoll
das Evangelium und mischte zum Offertorium Wasser und Wein. Am
hinteren Ende der Kirche öffnete sich eine Tür. Eine
verhüllte Gestalt schlüpfte herein und huschte lautlos
durch das Kirchenschiff, um neben Bonaventura am Fuße der
Treppe niederzuknien. Athelstan zwang sich, den Blick nicht von der
weißen Brotscheibe zu heben, über die er die Worte der
Wandlung gehaucht hatte und die so zum Leib Christi geworden waren. Nun war
die Wandlung vorbei, und er begann mit dem Gebet des Herrn: »Pater
noster, qui es in coelis...«
    Seine Stimme hallte
laut und klar durch das leere Kirchenschiff. Er hielt inne, wie es
der Kanon der Messe gebot, um für die Toten zu beten. Er
dachte an Fulke, den Hegemeister aus seiner Pfarrgemeinde, der vier
Nächte zuvor bei einer Prügelei in der Schänke
umgekommen war, und dann an seine Eltern und an seinen Bruder
Francis ...
    »Gott schenke
ihnen die ewige Ruhe«, flüsterte er. Schwankend stand er
vor dem Altar und fragte sich zum hundertsten Mal, weshalb er sich
wie ein Mörder fühlte. Oh, in Frankreich hatte er
Menschen getötet im Kampf für den Schwarzen Prinzen, den
ältesten Sohn des alten Königs, der die Krone von
Frankreich und Kastilien mit der von England hatte vereinigen
wollen. Da hatte Athelstan seine Pfeile so tüchtig und genau
verschossen wie alle anderen. Er erinnerte sich an die Leiche eines
jungen französischen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher