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Die Galerie der Nachtigallen

Die Galerie der Nachtigallen

Titel: Die Galerie der Nachtigallen
Autoren: Paul Harding
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ein Ende der immer neuen
Besteuerung. Und das Unterhaus, geführt von seinem Sprecher,
schimpfte heftig, wenn es in der Kapelle von St. Stephen zu
Westminster zusammen trat. Gaunt strich sich über den sauber
gestutzten Bart. Konnte er den Schritt tun? Würde er ihn tun?
Er biß sich auf die Unterlippe und erwog die Konsequenzen.
Seine jüngeren Brüder würden sich wehren. Die
großen Lords des Rates, mit den sanften, aber mächtigen
Bischöfen im Rücken, würden zu den Waffen greifen
und den Zorn des Himmels erflehen. Und Richard - der blasse,
blauäugige Richard -, was würde aus ihm werden? Gaunt
fröstelte. Er entsann sich der alten Prophezeiung: Wenn die
alte Katze stirbt, dürfen die Mäuse nicht frohlocken,
denn das neue Kätzchen wird zu einem noch schrecklicheren
Ungeheuer heranwachsen!
    Gaunt fürchtete
sich vor nichts, aber sein stiller Neffe mit der Grabesmiene barg
ganz besonderen Schrecken für ihn, so als könnten die
uralten Augen in dessen zehnjährigen Antlitz seine geheimsten
Gedanken lesen. Auch die Gemeinen im Unterhaus würden ein Auge
auf ihn haben, und Gaunt war unvorsichtig gewesen. Er hatte
versucht, Geld aufzutreiben, und die Beweise waren offenkundig. Die
Söhne des Dives hatten ihn in ihren Klauen. Die Geheimnisse,
die sie kannten, durften niemals enthüllt
werden.       
    Gaunt lehnte sich
zurück. Wovor hatte er Angst? Die Dämonen seiner privaten
Hölle stiegen aus der schwarzen Grube der Erinnerung empor.
Mord! Starr blickte er sich um. Meuchelmörder! Die
Ankläger schienen aus den Flammen aufzusteigen, und ihm brach
der kalte Schweiß aus. Der Dämon wuchs in seinem Herzen,
und der Herzog nahm gierige Schlucke aus dem Weinbecher und hoffte,
die Dämonen mit seiner Schwere zu ertränken.
    *
    Gaunt hatte Grund zur
Wachsamkeit. In London war der Mord schließlich kein Fremder.
Er strich durch die Straßen, die Augen blind wie die Nacht,
und suchte seine unglücklichen Opfer. Mord wanderte durch die
kotverklebten Gassen und Straßen von Southwark, glitt wie
Nebel durch die halboffenen Türen heißer, stickiger
Schänken und hockte mit kaltem Blick dabei, wenn die Menschen
einander zu Tode hackten. Mord lauerte in der Tür der
schmierigen Apotheke, wo Gifte verkauft wurden: gemahlene
Diamanten, Belladonna und Arsen. Manchmal ließ der Mord auch
die Stadtmauern hinter sich und schlich hinter dem Tower auf
dunklen Landstraßen dahin, doch in jener Nacht hatte er sich
eine saftigere Beute auserkoren und sein Lager in Sir Thomas
Springalls hübscher Villa im Strand aufgeschlagen, einem
veritablen Palast mit Ziegeldach, schwarzem geschnitztem Holzwerk,
schimmernd weißem Putz und einem frischgemalten Schild mit
dem Wappen des Goldschmieds: silbernen Streifen, goldenen
Kleeblättern und Spangen aus Gold und Seide.
    Das Haus lag in tiefer
Ruhe. In der hohen Banketthalle war das Feuer heruntergebrannt; es
knackte noch ein wenig in der Glut, und die Asche schwelte. Die
Kerzen waren längst gelöscht, aber der süße
Duft ihres Wachses hing noch in der Luft. Gobelins, schwer und
golddurchwirkt, hingen an den Wänden und bewegten sich leise
im kalten Nachtwind, der durch die Ritzen in den bleiverglasten
Fenstern hereinblies. Der mächtige Tisch trug die Reste eines
Banketts, und das weiße Damasttischtuch voller Fett- und
Rotweinflecken schimmerte noch im ersterbenden Schein des Feuers.
Die silbernen Teller waren abgetragen worden, aber die Platten mit
den Resten von Frikassee und Hammelkeulen und mit den Knochen von
Gänsen, Pfauen und Hühnern standen noch da. Daneben
bauchige Becher, klebrig von Malvasier, Bordeaux und Sherry. Eine
kräftige, langschwänzige Ratte huschte zwischen dem
Geschirr umher; ihre roten Augen funkelten, ihr Bauch war voll und
schwer, und sie war so träge, daß sie kaum quiekte, als
die hellbraune Hauskatze sich auf sie stürzte und den
aufgequollenen Leib zermalmte. Auf dem Korridor hörte ein Hund
das Geräusch; er regte sich und hob den zottigen,
schlaftrunkenen Kopf.
    Ein Stockwerk tiefer
schnarchten die Diener ungestört. Sie hatten sich die
Bäuche vollgeschlagen, und ihre Köpfe waren dumpf von den
Essens- und Weinresten. In einer Kammer lag eine Magd, den Saum
ihrer Röcke in den Mund gestopft, und wand sich in stummer
Leidenschaft unter den Lenden eines jungen Knechtes. Sie hätte
unbekümmert schreien können. Die breite Treppe nach oben
war verlassen, ebenso wie die holzgetäfelte Galerie, die an
den herrschaftlichen Schlafgemächern vorbeiführte.
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