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Die Frauen von Savannah

Die Frauen von Savannah

Titel: Die Frauen von Savannah
Autoren: Beth Hoffman
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merkte, dass sie fast anfing zu weinen, also nahm ich ihre Hand und zog sie hoch. Als wir in die Küche kamen, wirkte Momma blass und wacklig auf den Beinen. »Ruh dich doch ein bisschen aus«, sagte ich und führte sie die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. »Ich mache uns nachher was zu essen.«
    Sie setzte sich auf die Bettkante, schlaff wie eine zerschlissene Stoffpuppe. Ich zog ihr die Hausschuhe von den Füßen und stellte sie neben ihren Nachttisch, aber als ich ihr gerade die Lockenwickler aus dem Haar machen wollte, flogen ihre Hände plötzlich in die Luft, und sie schlug um sich, als würde sie von einem Mückenschwarm angegriffen.
    »Was ist denn Momma? Was hast du?«
    Sie sprang auf und kreischte: »Die besten Jahre meines Lebens habe ich vergeudet! Dieser Mistkerl! Zur Hölle mit ihm! Er soll tot umfallen!«
    Momma schnappte sich eine Puderdose von ihrem Frisiertisch und warf sie gegen die Schranktür. Sie explodierte, und es flog so viel weißer Puder durch die Luft, dass ich mich fühlte wie in einer riesigen Schneekugel.

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Kapitel 3
Freitag, 2. Juni 1967
    E s gab drei Augenzeugen, und alle drei sagten dasselbe: der Happy-Cow-Eiswagen kam über eine Straßenkuppe geschossen und prallte so heftig auf Momma, dass sie aus ihren roten Satinschuhen gestoßen wurde. Ein Polizist mit dickem Bauch stand bei uns in der Einfahrt und sagte zu Dad, Momma sei sofort tot gewesen.
    »Es tut mir leid, Ihnen diese schreckliche Nachricht überbringen zu müssen. Wirklich leid. Es ging so schnell, sie hat nichts gespürt, Mr Honeycutt. Das versichere ich Ihnen.«
    Meine Beine wurden ganz weich, und ich klammerte mich am Fensterrahmen fest. Rote Schuhe? Ja, sie trug ihre roten Lieblingsschuhe.
    Mit aschfahlem Gesicht schaute Dad das Haus an. Einen kurzen, bohrenden Moment lang begegneten sich unsere Blicke. In der Luft zwischen uns hingen tausend ungesagte Worte. Seine Stimme brach, als er sich an den Polizisten wandte und fragte: »Wo … wo sagen Sie, ist das passiert?«
    »Auf der Euclid Avenue, vielleicht fünfzig Meter vor dem Wohltätigkeitsladen. Der Eiswagenfahrer sagt, sie ist ihm schnurstracks vor den Wagen gelaufen. Er konnte nicht mal mehr ausweichen.«
    Dad hob die Hand, die Innenfläche nach vorn gestreckt, die Finger gespreizt, wie um den Polizisten davon abzuhalten, noch mehr zu erzählen.
    »Großer Gott«, sagte er, ließ den Arm sinken und setzte sich schwer auf die Eingangsstufen. »Großer Gott im Himmel.«
    Der Polizist zog sich einen Zahnstocher hinter dem Ohr hervor und steckte ihn sich in den Mundwinkel. »Das ist natürlich ein entsetzlicher Schock, aber ich muss Ihnen trotzdem ein paar Fragen stellen. Ihre Frau ist in einem ausgefallenen Cocktailkleid auf die Straße marschiert, und sie hatte ein Diadem auf dem Kopf. Ich weiß ja, dass sie sich manchmal gerne ein bisschen … na ja, farbenfroh gekleidet hat. Und ich frage mich, hat sie eigentlich irgendwelche Medikamente genommen?«
    Dad ächzte und schüttelte den Kopf.
    »Mr Honeycutt, wissen Sie, wohin sie wollte, so aufgeputzt am helllichten Tag?«
    Dad ließ den Kopf hängen und sagte Nein. Aber das war eine dicke, fette Lüge. Er wusste verdammt gut, dass Momma mindestens einmal die Woche in den Wohltätigkeitsladen ging, aber ich nahm an, es war ihm zu peinlich, dem Polizisten zu erzählen, warum.
    Er war fast drei Wochen lang nicht zu Hause gewesen und noch keine zwanzig Minuten da, als der Polizist an die Tür geklopft hatte. Ich wusste selbst nicht, ob mein Vater mir vollkommen egal war oder ich ihn wirklich hasste, aber ich war zutiefst dankbar, dass er mit dem Polizisten sprach und nicht ich.
    Ich trat vom Fenster weg, warf mich aufs Bett und holte mehrmals langsam und tief Luft. Mir rauschte das Blut in den Ohren, und eine seltsame Hitze kroch durch meine Adern, bis mir so heiß war und ich so schwitzte, dass ich dachte, ich müsste spucken. Als ich schon ins Bad rennen wollte, kühlte ich plötzlich so schnell ab, dass ich zitterte. Wer auch immer gesagt hatte, das Leben könne sich in einem winzigen Augenblick komplett ändern, hatte also recht gehabt. Vor weniger als zwei Stunden war ich mit meinem Zeugnis in der Hand aus der Schule gekommen und hatte mich gefreut, dass die Sommerferien anfingen. Und jetzt behauptete ein Polizist, meine Mutter sei tot, und ich wusste überhaupt nicht, was ich glauben oder denken sollte, und schon gar nicht, was fühlen.
    Die Haut auf meiner Stirn spannte, und meine Hände wurden taub, aber
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