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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street
Autoren: Katherine Howe
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spielte weiter, und einige wenige Paare wiegten sich noch im Takt dazu. Allmählich waren die Kerzen heruntergebrannt, ihre Dochte flackerten, und der Geruch nach verbranntem Wachs mischte sich unter den schweren Frühlingsduft der Lilien auf den Tischen. Helen stellte den Ellbogen in ein Nest aus zerknüllten Servietten auf dem Tisch, schmiegte die Wange in die Hand und ließ ihre Augen langsam zufallen. Sie und Eulah saßen zusammen und lauschten der trägen Musik, ohne ein Wort zu sagen.
    Dann spürte Helen auf einmal eine winzige Veränderung unter ihren Füßen und öffnete die Augen. Das Vibrieren der Schiffsmotoren, so allgegenwärtig und gleichmäßig, dass sie es längst nicht mehr wahrnahm, hatte sein Timbre verändert, und aus einem steten Brummen war ein etwas mühsames Schup, Schup, Schup geworden. Helen ließ den Blick zu Eulahs Gesicht schweifen, um festzustellen, ob sie die Veränderung ebenso bemerkt hatte. Einige der verbliebenen Gäste an den Tischen steckten die Köpfe zusammen und führten murmelnd Gespräche, spekulierten. Männer traten an die Fenster des Speisesaals, spähten durch den Nebel hindurch aufs Wasser. Eulah jedoch saß still da, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen, und gab den Blick auf den milchweißen Hals frei. Um ihre Lippen spielte ein feines Lächeln.
    Auch dem Orchester war nicht anzumerken, ob es eine Veränderung gespürt hatte, denn es stimmte eine weitere beliebte Weise an, ein langsames Lied, das Helen nicht kannte. Die tanzenden Paare, die noch kurz innegehalten hatten, um über den Ruck zu rätseln, den sie verspürt hatten, beschlossen mit allgemeinem Achselzucken, ihre Bedenken zu vertagen, und tanzten weiter.
    » Seltsam « , sagte Helen zu sich selbst.
    Plötzlich hellwach, richtete sie sich in ihrem Stuhl auf und sah sich im Speisesaal um. Einige der Herren standen immer noch an den Fenstern und palaverten im Flüsterton, einige gestikulierten. Eine Gruppe eilte gemeinsam aufs Deck hinaus, während sich eine andere auf den Rückweg an die Tische machte, um sich flüsternd mit ihren Tischgenossen zu beraten. An den Esstischen erhob sich allgemeines Gemurmel. Ein paar Uniformierte eilten, fast im Laufschritt, zu den Fenstern.
    In diesem Moment hörte Helen ein Ächzen und Krachen, und der Esstisch geriet in Bewegung, rutschte ganz allmählich unter ihrem Ellbogen weg und glitt mehrere Meter den Boden entlang, fast so wie bei einer von Mrs Dees Séancen. Helen brauchte einen Moment, bevor ihr klar wurde, dass der Tisch deshalb rutschte, weil das Schiff in Schieflage geraten war. Mit vor Schreck geweiteten Augen ergriff sie mit beiden Händen den Tisch. Einige der Damen im Speisesaal stießen spitze Schreie aus, wurden jedoch von den Männern am Tisch beruhigt. Das Orchester hörte zu spielen auf, die Musiker blickten unsicher in die Runde. Draußen vor dem Speisesaal, auf der Empore darunter und auf den Gängen vor den Fenstern hörte man Fußgetrappel und Schreie. Helens Herz schlug schneller.
    Eulah öffnete die Augen und lächelte Helen an. Ihre Tochter wirkte so heiter, so voller Freude. Helen konnte nicht anders, als ihr Lächeln zu erwidern.
    » Liebling « , sagte Helen. » Hast du das mitgekriegt? «
    Eulah lächelte nur und schüttelte den Kopf. » Was denn? «
    Helen geriet ins Stottern. » Na ja, ich hätte schwören können – das heißt, eigentlich war es, als ob … «
    Eulah schüttelte den Kopf, und ihr Lächeln wurde breiter. Sie beugte sich vor und ergriff eine von Helens Händen. » Komm, Mutter, gehen wir draußen auf dem Oberdeck noch ein bisschen spazieren. «
    » Spazieren? « , wiederholte Helen verwirrt. » Aber … « Einen Moment lang blickte sie sich um, weil sie nicht wusste, was sie hatte sagen wollen. Von draußen kamen noch mehr Schreie, im Speisesaal hoben sich die Stimmen der Gäste, einige rannten zu den Treppen.
    » Spazieren, komm « , wiederholte Eulah, so heiter und lächelnd wie immer. Sie schaute ihrer Mutter in die Augen. Irgendwo in ihrem Blick stand eine solche Gewissheit, dass Helens Ängste und Ahnungen auf einmal wie weggeblasen waren. » Klar. Ist doch eine schöne Nacht. Und man lebt nur einmal. In diesem Moment, Mutter. Er ist alles, was es gibt. Ich möchte keine Sekunde davon verpassen. «
    Helen erwiderte Eulahs Lächeln, zuerst zögerlich und dann voller Entschlossenheit. » Ich auch nicht « , sagte sie und erhob sich.
    Eulah stand bereits, strich sich die Röcke glatt und hängte Helen bei
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