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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street
Autoren: Katherine Howe
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sich ein. Die beiden Frauen tauschten ein verschwörerisches Lächeln, und dann gingen sie Arm in Arm in die sich vertiefende Dunkelheit der nordatlantischen Nacht hinaus.

ANMERKUNG
    Der Rauch lichtet sich
    A m 27. Mai 1917 reiste ein neununddreißigjähriger Dermatologe per Dampfschiff über den Atlantik und schrieb folgenden Brief nach Hause an seine Frau: » Bislang verlief die Reise sehr ruhig und angenehm. Seit die Titanic auf Eis gelaufen ist, nehmen die Dampfschiffe eine südlichere Route als damals bei deiner Fahrt … Ich finde das besser, weil es zwar länger dauert, man aber ein paar warme, angenehme Tage hat. Ich bin mir sicher, dir würde es gefallen. Seit wir in New York in See gestochen sind, haben wir nur drei weitere Schiffe gesichtet … Die Ergebnisse der Baseballspiele werden gekabelt, und ich habe gehört, dass die Red Sox St. Louis geschlagen haben. Das Leben an Bord ist gemächlich, aber angenehm. «
    Der Grund, warum das Schiff seit New York erst ganzen drei Schiffen begegnet war, lag darin, dass sich der Dermatologe, ein ruheloser Mann, der mit zwanzig Jahren bereits an mehreren Forschungsreisen in die Arktis teilgenommen hatte und sich nie mit dem täglichen Einerlei in einer Hautarzt-Praxis abgefunden hatte, keineswegs auf einer Vergnügungsreise befand. Er war Erster Medizinischer Offizier bei den Königlichen Füsilieren der kanadischen Armee und unterwegs zur Westfront des Ersten Weltkrieges. Er war mein Ururonkel, und Boston würde er nie wiedersehen.
    Wer als Historiker an der Universität von Harvard seine Briefe nach Hause liest, kommt nicht um die Frage umhin, was er dort eigentlich wollte. Warum sollte ein Mann mittleren Alters, verheiratet, etabliert in seinem Beruf, wenngleich ein wenig überdrüssig, die Sicherheit von Back Bay aufgeben und sich freiwillig für einen Krieg melden, mit dem er anscheinend gar nichts persönlich zu tun hat? Und wie sieht diese Welt, die er verlässt, überhaupt aus? Wir haben eine ganz bestimmte Vorstellung vom Leben in den Vereinigten Staaten der Zwanzigerjahre: Mädchen mit Bubiköpfen, die Charleston tanzen, Jazz, schwarzgebrannter Gin – all das, was man aus Filmen und anderen unzähligen Beispielen der Popkultur kennt. Doch das Jahrzehnt vor den Zwanzigern entzieht sich weitestgehend unseren Vorstellungen. Was war das wohl für eine Welt, der unser Dermatologe den Rücken kehrte?
    Boston in der zweiten Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts war eine Stadt im Umbruch. Gemessen am technischen Fortschritt und der Bevölkerungsentwicklung hatte die Stadt bereits eine vage Ähnlichkeit mit dem Boston des Jahres 2011, doch gänzlich modern war es noch nicht. Die erste Metro der Stadt, die Tremont Street Line, war bereits seit 1897 in Betrieb, doch auf den mit Kopfstein oder Backstein gepflasterten Straßen sah man immer noch Pferde. Wellen der Einwanderung aus Irland und Italien hatten den Charakter der Stadt verändert, doch ihr kommerzielles Leben wurde nach wie vor von alteingesessenen englischen Familien dominiert. Es war eine Stadt und eine Zeit im Banne des Modernismus mit seinen zwiefachen Versprechen von Technik und Fortschritt. Doch mit der Veränderung kam auch die Ungewissheit.
    Vielleicht eines der größten Symbole sowohl der Verheißung moderner Zeiten als auch ihres Scheiterns war und ist die RMS Titanic . Ihr Untergang beschäftigt unsere Kultur bis heute, einhundert Jahre nach dieser schrecklichen und überraschenden Katastrophe. Und was war am Sinken dieses Ozeandampfers so besonders, dass es selbst nach fünf Jahren so sehr im Mittelpunkt der Ängste eines Mannes stand, der auf dem direkten Weg an einen Kriegsschauplatz war?
    Zum einen war der Untergang der Titanic schockierend, weil er die wahren Auswirkungen einer sozialen Kluft zwischen Arm und Reich aufzeigte, die selbst nach heutigen Maßstäben niederschmetternd ist. Tatsache ist, dass Eulah und Helen Allston als weibliche Reisende der ersten Klasse es mit ziemlicher Sicherheit in ein Rettungsboot geschafft hätten. Nur ganze vier Frauen dieser Kategorie wurden nicht gerettet. Im Vergleich dazu lag die Sterblichkeitsrate bei den Passagieren der dritten Klasse, Kinder eingeschlossen, bei nahezu 75 Prozent. Das Ticket für eine Außenkabine kostete im Jahre 1912 4350 Dollar, was in etwa gleichzusetzen wäre mit heutigen 90 000 Dollar – mit denen man derzeit eher eine Weltraumreise auf der Virgin Galactic kaufen könnte statt eine Passage auf dem Atlantik. Die Konzentration
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