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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
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bisschen Angst, dass du den Kontakt wieder abbrichst, und wieder wegen unserer unterschiedlichen Ansichten. Du hältst mich vielleicht noch immer für geistesgestört. Aber ich weiß, dass es in dir einen Raum für eine offenere Deutung des Mysteriums gibt, das wir dort am Fjord erlebt haben. Dass wir im Laufe der Zeit ganz unterschiedliche Schlüsse daraus gezogen haben, spricht nicht dagegen. Ich weiß noch, wie wir am ersten Tag miteinander gesprochen haben, und ich erinnere mich an unsere Rückfahrt nach Oslo. Erst als ich anfing, die Wohnung mit den vielen neuen Büchern zu füllen, hast du wirklich den Rückzug in dich selbst angetreten. Und nicht zu vergessen, über dreißig Jahre später schreibst du, dass du Angst vor mir hast.
     
    Lass das bitte nicht das letzte Wort bleiben. Wir waren Höhlenmenschen zusammen, es gibt keinen Grund, das zu vergessen.
    Wir waren außerdem Homo erectus, Homo habilis und Australopithecus africanus zusammen, auf einem Erdball, der von Leben nur so wimmelt, in einem von Geheimnissen strotzenden Universum. Von all dem verleugne ich nichts.
    Aber das große Mysterium, von dem wir ein Teil sind, endet nicht zwangsläufig beim Fleischlichen oder Materiellen. Vielleicht sind wir außerdem unsterbliche Geister, und vielleicht ist das der tiefste Kern unserer Persönlichkeit. Alles andere– ob Sterne oder meinetwegen Kröten – ist im Vergleich dazu nur äußerlicher Schnickschnack. Selbst eine Sonne kann nicht mehr als eine Kröte, und selbst eine Galaxis kann nichts anderes als eine Laus. Sie können nur ihre ihnen zugemessene Zeit verbrennen.
    Dass unsere Körper mit Kröten und Kriechtieren verwandt sind, daran hast du mich oft genug erinnert. Aber wie eng die genetische Verwandtschaft zwischen primitiven Wirbeltieren und dem Homo sapiens auch sein mag, es bleibt ein wesentlicher Unterschied zwischen Kröten und Menschen: Wir können vor den Spiegel treten und uns selbst in die Augen schauen, und die Augen sind der Spiegel der Seele. Auf diese Weise werden wir zu Zeugen unseres eigenen Rätsels. Ein indischer Weiser hat es so ausgedrückt: Atheismus bedeutet, nicht an die Herrlichkeit der eigenen Seele zu glauben.
    Hier und jetzt sind wir beide Körper und Seele, beides auf einmal. Aber wir werden die Kröten in uns überleben. Die Preiselbeerfrau hatte keinen Körper aus Fleisch und Blut mehr, sie war ein Wunder über dieser Welt. Ich wünschte, dir gingen eines Tages die Augen auf für das göttliche Mysterium, das sie in sich trug.
     
    Und nun denke ich mit einem kleinen Lächeln daran, wie wir uns einander wieder und wieder hingeben konnten. Wir waren beinahe unersättlich. Noch immer bewahre ich Bilder aus unserer Woche am Fjord in mir. Es sind schöne Bilder und gute Erinnerungen. Denn ich schäme mich meiner fleischlichen Natur nicht, die Idee wäre mir niemals gekommen, und darum geht es mir auch heute nicht. Heute freue ich mich nur darüber, noch viel mehr zu sein. Etwas Dauerhafteres.
    Und jetzt warte ich auf deine Antwort.

8
     
    Der Fingerhut! Du bist ein Genie, Solrun! Ohne es zu wissen, hast du vielleicht ein altes Rätsel gelöst. Aber ich muss am anderen Ende anfangen.
     
    Ich bin wieder hier. Ich sitze im Turmzimmer wie damals. Hier habe ich vorhin deine Mail aufgemacht und den Schluss an einem papierdünnen Laptop auf meinen Knien auf der alten Chaiselongue gelesen. Es war seltsam. Und schmerzlich. Zwischendurch musste ich auf den Balkon und zu den Bergen und zum Gletscher hinaufschauen, sehen, dass etwas normal ist. Dass etwas von Dauer ist. Als ich zu Ende gelesen hatte, bin ich zum alten Dampferanleger hinuntergeschlendert. Ich hatte das Gefühl, dort jeden Moment auf uns beide stoßen zu können. Was ist Zeit? Alles ist wie ein doppelt belichteter Film. Ich habe die Mail noch ein zweites Mal gelesen, bevor ich sie gerade eben gelöscht habe. Für die Antwort habe ich mich an den kleinen Tisch gesetzt.
     
    Heute Morgen habe ich mich aus dem Institut geschlichen und mich herumgetrieben wie vor dreißig Jahren. Ich hatte dir geschrieben, dass ich rastlos war, aber ich hatte auch einen Entschluss gefasst und mich hier angemeldet.
    Berit habe ich angerufen und gesagt, ich sei schon mit dem Auto unterwegs übers Gebirge, um das Wochenende hier zu verbringen und mich auf zwei Artikel zu konzentrieren, die ich schreiben müsse, sie hingen mit den Gletschern und dem Gletschermuseum hier zusammen. Ein Vorwand. Was mich hergezogen hat, waren deine Mails. Ich
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