Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
Vom Netzwerk:
die Frau mit dem roten Tuch angefahren haben, du hast ihn erwähnt, den »Zuckerhut«. Eine gute Bezeichnung übrigens, denn er hat tatsächlich eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem echten. Diesmal sehe ich auf der GPS-Karte, dass er einen Namen hat: Eldrehaugen .
    Gleich nach dem Hügel finde ich auf der rechten Straßenseite eine kleine Abfahrt, an der man Schilder mit kulturhistorischen Informationen aufgestellt hat. Auf einem steht:
     
    Eldrehaugen nennt man den runden Hügel, der von hier aus im Osten zu sehen ist. Im Eldrehaugen haust eine Sippe von unsichtbaren Unterirdischen, die Åsgardsreii oder Joleskreii genannt wurden. In jeder Weihnachtsnacht um Mitternacht kamen sie in wilder Jagd aus dem Eldrehaugen geflogen und zogen weiter durch Hallingdal. Sie suchten die Höfe auf und holten sich ihren Teil vom Weihnachtsmahl und vom Bier. Die Menschen stellten ihnen bereitwillig Speis und Trank hin, denn das brachte Glück und Segen. War die Speise allerdings mit einem Kreuz gezeichnet, wurde die wilde Horde böse, was zu Unglück für Volk, Vieh und Besitz führen konnte. Die Menschen in Hemsedal kannten die Namen mehrerer Angehöriger der wilden Jagd: Tydne Ranakam, Helge Høgføtt, Trond Høgesyningen, Masne Trøst und Spenning Helle. Die wilde Jagd kam bis in die Dörfer um Drammen. Dort trieben sie sich während der gesamten Weihnachtszeit herum und kehrten erst nach dem heutigen Dreikönigstag zum Eldrehaugen zurück.
     
    Masne Trøst! Tydne Ranakam!
     
    Ich schüttelte den Kopf, und mir kam in den Sinn, worüber du offenbar schon damals nachgedacht hast, nämlich dass es gar kein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen sein könnte, den wir angefahren hatten, sondern vielleicht ein Spuk, eine Erscheinung. Ich blieb lange in Gedanken versunken dort stehen.
     
    Aber der Fingerhut und die Preiselbeerfrau! Da hast du womöglich voll ins Schwarze getroffen.
    Wir haben dasselbe gesehen, schreibst du, aber Unterschiedliches gehört oder verstanden.
    Wir fühlten uns zu dem Fingerhut hingezogen, und du warst so fasziniert von seinen Blüten, dass du sie anfassen musstest. In diesem Augenblick haben wir wahrscheinlich an genau dasselbe gedacht. Auch wenn wir nicht die ganze Zeit darüber geredet haben, dachten wir doch fast ununterbrochen an die Frau, die wir dort oben angefahren hatten. Die Blüten des Fingerhuts hatten genau dieselbe Farbe wie das Tuch, das sie um die Schultern getragen hatte und das wir später im Heidekraut fanden. Ich meine nicht nur dieselbe Farbe, sondern haargenau dieselbe zwischen Rosa und leuchtendem Rot spielende Schattierung. Vielleicht stach uns der Fingerhut überhaupt nur deshalb ins Auge.
    Und plötzlich ließ uns etwas herumfahren, da hast du recht. Vielleicht war es ein Hermelin oder eine Elster. Wir drehten uns jedenfalls um, und nun glaubten wir beide, die Frau zu sehen, die wir angefahren hatten – da stand sie auf der Lichtung im Birkenwäldchen und trug dasselbe rote Tuch um die Schultern.
    Was ich sagen will, ist, dass es kein Wunder wäre, wenn wir in dem Augenblick in dem Gemütszustand, in dem wir uns befanden, genau dieselbe Halluzination gehabt hätten, ich meine, nachdem wir uns von den üppigen Fingerhutblüten mit der hinreißenden Farbe hatten betören lassen. Warum hast du dich zu denen wohl so hingezogen gefühlt? Gleich daneben gab es ebenso verlockende Glockenblumen.
    Ob es hundert oder tausend oder hunderttausend verschiedene Farben gibt, ist eine akademische Frage. Aber hier ging es um haargenau denselben Farbton. Irgendetwas bewegte sich im Wald hinter uns, wir fuhren herum und blickten auf und glaubten beide, die Frau mit dem roten Tuch um die Schultern zu sehen. Dann habe ich geglaubt, dass sie etwas sagt, und du hast geglaubt, dass sie etwas ganz anderes sagt. Aber dass ich daran dachte, dass ich dort oben in den Bergen zu schnell gefahren war, ist nicht schwer zu begreifen, und dass du seit deinem elften Lebensjahr an der unwiderlegbaren Tatsache gelitten hast, dass wir diese Welt eines Tages verlassen müssen, steht ebenso fest.
    Dazu hattest du dieses Buch gefunden. Du hattest darin gelesen, ich auch, und das Einzige, was uns fehlte, war der Fingerhut.
    Wir waren so bis ins Innerste erschüttert, dass wir Halluzinationen hatten. Verletzt und wehrlos waren wir, und plötzlich kippte für uns beide alles um. Für ein paar Sekunden jedenfalls waren wir vollkommen benebelt.
     
    Morgen fahre ich zurück nach Oslo. Aber ich werde nicht noch einmal den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher