Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
Vom Netzwerk:
schönen Spaziergang. Ich gehe gleich zum Frühstück nach unten, dann checke ich aus und fahre los. Gestern Abend hatte ich den ganzen Speisesaal für mich. Es war ein bisschen einsam, aber ich habe mir zum Ausgleich schon zum Essen eine große Karaffe Wein bestellt. Wenn sich das nach ein bisschen viel anhört, bedenk bitte, dass ich für dich mittrinken musste. Ich habe mir vorgestellt, dass du auf der anderen Seite des Tisches sitzt, und dich abwechselnd so zu sehen versucht, wie du heute bist und wie du damals warst. Groß ist der Unterschied nicht.
     
    * * *
     
    Und jetzt hallo! Ich bin nach einer langen Fahrt in Bergen angekommen, sitze auf meinem Hotelzimmer und schaue hinaus aufLille Lungegårdsvann und Ulriken. Die Lichter draußen zeichnen sich immer schärfer ab, es ist Abend, und ich habe zum ersten Mal in diesem Sommer das Gefühl, dass die Jahreszeit wechselt.
     
    Ich habe südlich des Sognefjords einen scheußlichen Verkehrsunfall gesehen, mir haben tatsächlich die Hände gezittert. Darum werde ich erst die Minibar leeren, bevor ich einen Blick in eine Zeitung werfe. Dann gehe ich schlafen. Können wir abmachen, dass du gegen neun an der Rezeption nach mir fragst? Dann fahren wir vielleicht nach Rutledal und nehmen die Fähre zu den Solund-Inseln?
     
    Ich freue mich darauf, dich wiederzusehen. Und ich freue mich darauf, dich in den Arm zu nehmen.
     
    * * *
     
    Ich habe gefrühstückt und mich danach eine Weile in der Halle herumgedrückt. Es ist Viertel nach neun. Auch wenn du meine letzten Mails nicht beantwortet hast, gehe ich davon aus, dass du sie gelesen hast und unterwegs bist. Wenn nicht, rufst du bitte an? Ich sitze auf meinem Zimmer und bin die ganze Zeit online.
     
    * * *
     
    Es ist zwölf Uhr, und ich habe immer noch kein Lebenszeichen von dir. Ich habe versucht, dich auf dem Handy anzurufen, aber es war den ganzen Vormittag ausgeschaltet. Ich warte noch ein paar Stunden, ehe ich bei dir zu Hause anrufe. Steinn.
     
    Steinn (denn ich kenne ja nicht einmal Ihren Nachnamen),
    Sie haben gerade einen Memorystick in Ihren Rechner geschoben, den Solrun um den Hals trug, als es passiert ist, aber ich kann Ihnen versichern, ich habe nur so viel gelesen,um zu begreifen, dass es sich um eine längere Korrespondenz zwischen Ihnen und ihr handelt. Diese elektronischen Spuren ihres Lebens gehören jetzt Ihnen allein. Ich glaube nicht, dass es noch andere Kopien gibt, in ihrem Rechner ist jedenfalls alles gelöscht. Ich werde bald meinen letzten Gruß an Sie auf demselben Stick speichern. Ich habe außerdem die letzten Mails hinzugefügt, die Sie ihr an diesem schrecklichen Tag geschickt haben. Wenn Sie das hier lesen, haben Sie alles gefunden, was auf dem Stick zu finden ist.
     
    Ich weiß nicht, ob ich mich für unsere letzte Begegnung bedanken soll, also lasse ich es vorsichtshalber sein. Ich will mich auch nicht weiter darüber verbreiten, dass es eine würdevolle Beisetzung war. Ich wollte zuerst nicht, dass jemand erfährt, wer Sie sind. Obwohl wir ein paar Worte gewechselt haben, als der Trauerzug am Lille Lungegårdsvann entlangging, wollte ich nicht, dass Ingrid und Jonas irgendetwas von Ihnen wissen. Ich hatte gehofft, dass Sie genug Verstand – genug Respekt – besitzen würden, der Gedenkfeier fernzubleiben. Eine Beerdigung ist etwas Öffentliches, aber eine Gedenkfeier ist privat, sie ist etwas Familiäres und gehört dem an, was ich als Intimsphäre bezeichnen würde. Aber Sie wollten Solrun den ganzen Weg begleiten, haben Sie gesagt, bis das letzte Wort gesagt wäre, dazu waren Sie fest entschlossen, und am Ende blieb mir keine andere Wahl, als Sie gewähren zu lassen und Sie den Kindern als alten Freund aus Solruns Studienzeiten vorzustellen. Nennen Sie es bürgerliche Doppelmoral, oder nennen Sie es, wie Sie wollen, man übt für solche Situationen ja nicht. Man ist nicht darauf vorbereitet, plötzlich zum Witwer zu werden.
    Auf die Gefahr, dass Sie mich für kleinlich halten, füge ich hinzu: Sie haben ganz am Ende der Gedenkfeier auch noch mit Ingrid gescherzt. Sie kamen in Stimmung, als fühlten Siesich plötzlich in Ihrem Element. Nicht nur haben Sie sich für die Gedenkfeier aufgedrängt. Sie wollten auch noch Aufmerksamkeit, Publikum. Das haben Sie bekommen. Es hat mich verletzt, dass Ingrid gelacht hat.
     
    Ich weiß, dass Sie mit Solrun auf einer Klaviatur gespielt haben, auf der wir beide, Solrun und ich, nicht spielten. Ich hatte natürlich von Ihnen gehört, oder
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher