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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
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Schreibtisch, es lag noch immer in dem kleinen Geschenkkarton, in dem ich es vor zehn oder fünfzehn Jahren für sie gekauft hatte. Aber warum? Warum hatte sie es jetzt herausgesucht?
    Ich habe den Karton mit dem Tuch genommen und auch den Memorystick hineingelegt, dessen Inhalt Sie jetzt lesen, denn ich finde, das Tuch und der Stick gehören Ihnen mehr als uns. Ich habe beschlossen, dass nichts hier im Søndre Blekeveien bleiben soll, was an Sie erinnert. Ich will nicht, dass Jonas in dem herumschnüffelt, was Sie und Solrun einandergeschrieben haben, und ich wünsche keinesfalls, dass Ingrid das Tuch erbt. Auch meinetwegen muss ich jetzt sehen, dass das Leben hier weitergeht. Nach einem Todesfall hat man viel zu erledigen, man muss Konten auflösen, Abonnements kündigen, überhaupt ist vieles abzuwickeln. Auch Sie stehen auf dieser Liste.
     
    Ich wollte an diesem Vormittag ins Büro, und sie hatte gesagt, sie werde eine Freundin besuchen. Sie sagte, sie werde nicht zum Essen nach Hause kommen, und deutete an, es könne spät werden. »Sehr spät«, sagte sie.
    Sie sagte nicht, wer diese Freundin war oder wo sie wohnte, darum ist es für mich noch immer ein Rätsel, warum sie an diesem Vormittag nach Sogn gefahren ist, sie hatte nie eine Freundin dort erwähnt.
    Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie bis nach Solund wollte, wo wir in den letzten Jahren häufiger Ferien gemacht haben. Und wenn es so war, warum hat sie dann nicht den Wagen genommen? Warum ist sie zu Fuß an der stark befahrenen Europastraße entlanggegangen?
    Denn es war auf der E 39, gleich im Süden von Oppedal, genauer gesagt dort, wo eine Straße nach Brekke und Rutledal abzweigt, wo sie angefahren wurde. Der Busfahrer hat bestätigt, dass sie aus Bergen gekommen und in Instefjord ausgestiegen war, im verkehrstechnischen Niemandsland sozusagen. Und als derselbe Linienbus aus Oppedal zurückkam, stand sie noch immer dort.
     
    Solrun konnte unberechenbar sein. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Ich gehe davon aus, dass nicht Sie auf dem Weg von Oslo nach Bergen dort vorbeifahren wollten. Sind Sie nicht sowieso mit dem Zug gekommen?
    Sie wurde einige Kilometer südlich des Sognefjords voneinem LKW erfasst. Es war in einer 80-Kilometer-Zone, aber der Lastzug hatte auf der langen Abfahrt nach Instefjord hinunter fast die doppelte Geschwindigkeit erreicht, es war schlechte Sicht, und der Fahrer, ein junger Mann, der unbedingt noch eine Fähre nach Oppedal erreichen wollte, sieht einer Gerichtsverhandlung und hoffentlich einer langen Gefängnisstrafe entgegen.
    Auch er besaß die Frechheit, bei der Beerdigung aufzutauchen. Aber er hatte immerhin Verstand genug, einen Bogen um die Gedenkfeier zu machen. Sonst hätte ich ihn selbstverständlich hinausgeworfen. Ich hätte die Polizei gerufen.
     
    Ich machte also Überstunden an diesem Samstag, als ich vom Krankenhaus Haukeland angerufen wurde. Mir wurde mitgeteilt, was passiert war, sie sagten, sie sei mit dem Hubschrauber gebracht worden und ihr Zustand sei kritisch. Ich stürzte los und rief vom Taxi aus Ingrid und Jonas an. Ich hatte einige Minuten mit ihr allein, bevor die Kinder kamen. Sie war übel zugerichtet, aber dann schlug sie die Augen auf und sagte mit leuchtender Klarheit im Blick: Was, wenn ich mich geirrt habe. Was, wenn Steinn recht hatte!
    Nicht nur Kinder und Betrunkene sprechen die Wahrheit, auch von Sterbenden kann man bisweilen wohlüberlegte Worte hören.
     
    Vielleicht hatten Sie recht, Steinn. Klingt das nicht gut?
     
    Ich fühle mich Solrun gegenüber verpflichtet, Ihnen ihren letzten Gruß zu überbringen. Oder sollte ich sagen, ihre letzte Bemerkung? Ich habe keine Ahnung, wovon sie gesprochen hat. Aber Sie vielleicht. Obwohl mir ein beunruhigender Gedanke kommt, das muss ich zugeben, ein Verdacht.
    Nimmt man alles in allem, werde ich den Gedanken nichtlos, dass euer Wiedersehen in diesem Hotel schicksalhaft war. Danach war sie jedenfalls nicht mehr sie selbst.
    Ich weiß, und Sie wissen wahrscheinlich auch, dass sie ein sehr religiöser Mensch war. Was immer passierte, sie war unerschütterlich von ihrem Glauben an ein Leben danach geprägt. Ich weiß nicht, ob ich annehmen darf, dass Sie eher Rationalist sind? Auf jeden Fall sind Sie als Klimaforscher Naturwissenschaftler. Ich tippe darauf, dass Sie und Solrun, was die grundsätzliche Lebenssicht betrifft, weit voneinander entfernt waren.
    Heute frage ich mich, ob wir nicht besser daran getan hätten, Solrun mit
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