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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
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Schuldgefühle verjähren niemals …
    Versprich mir, die Mails zu löschen!
     
    Erst als wir oben zwischen den Überresten der alten Berghütte saßen, hast du erzählt, was dich wieder in das Hotel geführt hatte. Wie im Zeitraffer hast du erzählt, was du in den vergangenen dreißig Jahren gemacht hast, und mir dein Klimaprojekt erklärt. Danach reichte es gerade noch für ein paar Sätze über einen besonders intensiven Traum in der Nacht, bevor wir uns auf der Veranda des Hotels begegneten. Es sei ein kosmischer Traum gewesen, hast du erzählt, doch dann kamen diese jungen Kühe auf uns zu gejagt, und wir mussten flüchten. Auf dem Weg hinunter haben wir über den Traum nicht mehr gesprochen.
    Dass du kosmische Träume hast, liegt für mich auf der Hand … Damals wollten wir versuchen, ein paar Stunden zu schlafen, aber wir waren zu aufgeregt, natürlich, deshalb lagen wir mit geschlossenen Augen nebeneinander und unterhielten uns flüsternd. Wir sprachen über Sterne und Galaxien, nichts sonst. Nur über solche großen, fernen, sozusagen übergeordneten Dinge …
    Wenn ich heute daran denke, finde ich es seltsam. Es war, bevor ich an etwas geglaubt habe. Aber bis dahin war es nur ein kleiner Schritt.
     
    Sie rufen mich wieder. Nur noch einen letzten Kommentar, ehe ich die Mail abschicke. Der See von damals heißt Eldrevatn . Ist das nicht ein seltsamer Name für einen einsamen Bergsee weit entfernt von der nächsten menschlichen Ansiedlung? Wer waren damals wohl die »Älteren« dort oben zwischen Felskegeln und den Gipfeln der Berge?
    Auf der Fahrt mit Niels Petter habe ich erst nur die Landkarte angestarrt. Ich war seit damals nicht mehr dort gewesen und konnte trotzdem nicht aufblicken, nicht bei dem See. Ein paar Minuten später kamen wir auch an der anderen Stelle vorbei, ich meine, an der Kurve bei dem Abgrund.Es war der Moment auf der Fahrt, der am meisten wehgetan hat.
    Ich glaube, ich habe erst unten im Tal wieder von der Karte aufgeschaut. Wenigstens habe ich so ein paar neue Ortsnamen entdeckt. Ich habe sie Niels Petter vorgelesen, etwas musste ich ja tun. Ich hatte Angst vor einem Nervenzusammenbruch, denn den hätte ich ihm erklären müssen.
    Ich war froh, als wir zu den neuen Tunneln kamen, und bestand darauf, durch sie durchzufahren, nicht vorbei an der Stabkirche und über die alte Straße am Fluss entlang. Ich saugte mir die blöde Erklärung aus den Fingern, dass es spät sei und wir nicht viel Zeit hätten.
     
    Zum Eldrevatn also.
    Die Preiselbeerfrau war »älter«. Fanden wir damals jedenfalls. Eine ältere Dame mit einem roten Tuch um die Schultern. Wir mussten uns gegenseitig versichern, dass wir dasselbe gesehen hatten. Das war, als wir noch miteinander redeten.
    Die Wahrheit ist, dass sie damals so alt war wie ich heute, nicht älter und nicht jünger. Eine Frau mittleren Alters …
    Als du auf die Veranda kamst, war es, als begegnete ich mir selbst. Wir hatten uns dreißig Jahre nicht gesehen. Aber das war nicht alles. Ich hatte ganz deutlich das Gefühl, mich von außen sehen zu können, ich meine, aus deinem Blickwinkel und mit deinen Augen. Plötzlich war ich die Preiselbeerfrau. Der Gedanke überkam mich wie eine bange Ahnung.
     
    Sie rufen schon wieder. Es ist das dritte Mal, ich schicke die Mail jetzt ab und lösche sie dann. Ich denk an dich. Solrun.
     
    Ich muss mich zusammennehmen, um nicht »deine Solrun« zu schreiben, zwischen uns hat es ja nie eine richtige Trennung gegeben. Ich habe an jenem Tag meinen Kram genommenund bin gegangen. Und ich bin nicht zurückgekommen. Ich brauchte fast ein ganzes Jahr, bis ich dir aus Bergen schrieb und dich bat, mir meine restlichen Habseligkeiten zusammenzupacken und zu schicken. Und auch das wollte ich nicht als offizielle Trennung verstanden wissen, es war einfach praktischer so, weil ich schon lange auf der anderen Seite der Berge war. Es hat dann noch ein paar Jahre gedauert, bis ich Niels Petter kennenlernte. Und mehr als zehn Jahre, wie ich jetzt weiß, bis du und Berit einander gefunden habt.
    Du hattest Ausdauer. Du hast uns niemals ganz aufgegeben. Und ich hatte ab und zu das Gefühl, ein Leben als Bigamistin zu leben.
     
    Ich werde nie vergessen, was uns dort oben auf der Passhöhe passiert ist. Manchmal kommt es mir vor, als verginge keine Stunde, ohne dass ich daran denke.
    Aber es geschah noch etwas danach, und das war wunderbar und verheißungsvoll. Heute betrachte ich es als Geschenk.
    Stell dir vor, wir hätten es
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