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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
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Weg über die Berge nehmen. Lieber fahre ich durch Aurlandsdalen nach Hol. Ich spiele außerdem mit dem Gedanken, einen Abstecher nach Bergen zu machen, um dich zu treffen.
    Geht das?
     
    Ich könnte mit einer Fähre zwischen Lavik und Oppedal über den Fjord setzen. Wenn es sich mit den Fährzeiten vereinbaren lässt, fahre ich vielleicht am Fjord entlang bis Rutledal und weiter nach Solund. Ich muss diese Gegend wiedersehen. Aber das ist für dich natürlich nicht zu machen. Mich in Rutledal zu treffen, meine ich. Vielleicht wäre es für dich am leichtesten, dich in einen Bus nach Oppedal zu setzen, denn mit zwei Autos zu fahren hätte keinen Sinn. Ich spreche von unserer allerletzten Eskapade. Wir haben viel zu bereden, und ich wäre sehr gern noch einmal mit dir auf den Inseln im Westen unterwegs, den ganzen Weg bis hinaus nach Kolgrov auf Ytre Sula. Wir könnten in Eides Laden am Anleger vorbeischauen und uns ein Eis kaufen – genau wie in alten Zeiten. Ich könnte natürlich auch verstehen, wenn es dir schwerfiele, dich loszureißen. Grüß ihn übrigens von mir.
    Sicherheitshalber habe ich für morgen ein Zimmer im Hotel Norge in Bergen bestellt. Hier im Dorf bin ich tatsächlich der letzte Gast, bevor sie für den Winter dichtmachen. Sie packen schon alles zusammen und hängen Decken und Laken über die Möbel.
    Ich werde möglicherweise morgen Nachmittag oder Abend in Bergen eintreffen. Dann lass uns vielleicht am Sonntag die Autofahrt zusammen machen, wenn du zu Hause dafür grünes Licht bekommst.
    Es wäre seltsam, die Buchten und Felsen noch einmal zu sehen. Jetzt muss die ganze Insel zudem ganz von blühendem Heidekraut bedeckt sein. Wir waren damals genau zur selben Jahreszeit dort. Und du hast recht: Wir mussten fast jeden Abend zu dieser Landspitze fahren und zusehen, wie im Westen eine Sonne über dem Meer unterging.
    Mir scheint, dass wir gerade jetzt unbedingt in eine solche Landschaft gehören.
     
    Vielleicht. Aber eines Tages werden unsere Seelen sich über einen ganz anderen und erhabeneren Horizont erheben. Das glaube ich.
     
    Bin ich trotzdem in Bergen willkommen?
     
    Komm einfach!
     
    Meinst du das ganz ehrlich?
     
    Ja, Steinn. Ich wünschte, du wärst schon hier. Komm!
     
    Ich will nicht verbergen, dass ich dich in all diesen Jahren immer lieb gehabt habe. An jedem einzelnen Tag habe ich an dich gedacht und Zwiesprache mit dir gehalten. So gesehen habe ich doch ein ganzes Leben mit dir verbracht. Das ist seltsam. Es war eine seltsame Beziehung. Aber ich danke dir für alles, auch für die letzten dreißig Jahre.
     
    Ich habe ja geschrieben, dass ich mir wie eine Bigamistin vorkomme. Auch ich hatte dich die ganze Zeit nahe bei mir. Ich habe zudem mit meiner Überempfindsamkeit gelebt und natürlich gespürt, dass du an mich gedacht hast.
    Aber du …
     
    Ja? Keine Angst, wir löschen die Mails ja, und niemand außer uns kann lesen, was wir schreiben.
     
    Waren wir nicht vor allem zwei Seelen, die zusammengehören? Ich meine, die miteinander verflochten sind wie zwei unzertrennliche Photonen, die zusammengehören und noch über Lichtjahre Entfernung hinweg aufeinander reagieren …
    Vielleicht ist es in unserem Alter leichter, den Unterschied zwischen Körper und Seele zu erkennen, als wenn man noch so jung ist.
     
    Darüber müssen wir noch viel mehr reden. Wir fahren noch nach Ytre Sula, nicht wahr?
    Aber ich habe Wein getrunken und sollte schlafen. Ich bin vierhundert Kilometer mit dem Auto gefahren, vielleicht schlafe ich schnell ein. Schlaf, was ist das für ein trügerischer Zustand! Ich weiß nicht, in welche Träume ich dich im Laufe dieser Nacht verwickeln werde. Ich kann für nichts garantieren. Mein Soll an kosmischen Träumen ist vielleicht erfüllt, also ist womöglich Platz für ein paar alltäglichere Träume. Ich könnte zum Beispiel versuchen, dich zu einem ruhigen Spaziergang um das Sognsvann zu verleiten. Gegen den Uhrzeigersinn!
     
    Gute Nacht!

9
     
    Guten Morgen!
     
    Ich habe Niels Petter gesagt, dass du unterwegs nach Bergen bist. Damit hatte ich das hinter mir, und es war eine Erleichterung. Jetzt mache ich einen langen Spaziergang und werde für den Rest des Tages außer Haus sein. Ich habe über so viel nachzudenken. Wir sehen uns. Wenn nicht vorher, dann auf jeden Fall morgen.
     
    Ich maile dir, sobald ich heute Nachmittag oder Abend in Bergen im Hotel bin, dann können wir uns genauer verabreden. Ich wünsche dir also einen schönen Tag. Und einen
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