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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
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zwischen den Bezirken Sogn og Fjordane und Buskerud in der Nacht, als wir dort unterwegs waren, einen Verkehrsunfall gegeben hätte. Wir sagten, wir könnten möglicherweise eine Zeugenaussage machen. Sie notierten sich Datum und Ort, und wir sollten zurückrufen, weil wir ja anonym bleiben wollten. Wir ließen zwei oder drei Tage verstreichen, und als wir wieder anriefen, versicherte man uns, es sei dort in der fraglichen Nacht kein Unfall gemeldet worden, ohnehin kämen auf der vergleichsweise übersichtlichen Strecke so gut wie keine Unfälle vor.
    Plötzlich gab es also überhaupt keine Spuren von dem, was geschehen war. Das machte die weltliche Seite des Ganzen noch geheimnisvoller, und als Kriminalfall ist das Ganze bis heute ungeklärt geblieben. Wir waren zu zweit gewesen, und wir wussten , dass wir eine Frau angefahren hatten, also mussten sich andere als die Polizei oder irgendwelche Behörden um den Leichnam gekümmert haben. Was mich betrifft, war ich inzwischen ohnehin davon überzeugt, dass wir Kontakt zu dem Geist der Frau gehabt hatten. Sie hatte sich uns wenige Tage, nachdem sie auf die andere Seite gegangen war, gezeigt.
    Da lag die tiefe Kluft zwischen uns. Ich zog andere Konsequenzen aus dem, was wir erlebt hatten, als du. Deshalb konnten wir nicht mehr zusammenbleiben. Ich begann, Bücher über spiritualistische Philosophie zu lesen, nicht nur das, das ich aus dem Billardzimmer mitgenommen hatte. Als du es entdeckt hast, dachte ich im ersten Augenblick, du würdestes mir an den Kopf werfen. Aber nach und nach habe ich auch viel in der Bibel gelesen, und heute betrachte ich mich als Christin.
    Der auferstandene Jesus hat sich den Jüngern gezeigt, und ich glaube, es war eine ebensolche Erscheinung wie die, die sich uns beiden offenbart hat. Wir haben darüber gesprochen. Für mich war es immer eine Zumutung, glauben zu sollen, dass Jesus erst tot war und dann sein Leichnam wieder lebendig wurde. In der Hinsicht schließe ich mich dem kirchlichen Dogma von der »Auferstehung des Fleisches« und archaischen Vorstellungen von Gräbern, die sich am Jüngsten Tag auftun werden, nicht an. Ich glaube an die Auferstehung des Geistes. Wie Paulus glaube ich, dass wir nach unserem körperlichen Tod mit einem »geistigen Körper« in einer anderen Dimension wiederauferstehen werden als der physischen Welt, in der wir hier und jetzt leben.
    Ich habe eine Synthese zwischen dem Christentum und einem in meinen Augen rationalen Glauben an eine unsterbliche Seele gefunden. Wobei es sich für mich nicht nur um einen Glauben handelt. Ich habe die Erscheinung der Frau gesehen, die wir angefahren und getötet hatten, so wie Jesu Jünger der Urkirche zufolge Jesus gesehen haben, nachdem er »von den Toten auferstanden« war. Glaubst du nicht, dass auch Jesus sich den Jüngern gezeigt hat, um ihnen Gnade zu erweisen, ich meine, um ihnen Glauben und Hoffnung zu schenken?
    Oder um es mit Paulus zu sagen: »Aber wenn verkündet wird, dass Christus von den Toten auferstanden ist, wie kann dann jemand unter euch sagen, dass es keine Auferstehung von den Toten gibt? Wenn die Toten nicht auferstehen, dann ist auch Christus nicht auferstanden. Aber wenn Christus nicht auferstanden ist, dann ist unsere Botschaft nichtig und euer Glaube hat keinen Sinn.«
     
    Ich war diejenige von uns, die schlimme Anfälle hatte und bitterlich darüber weinen konnte, dass sie nichts als ein Stück Natur war, damals, als wir uns zum Trost in den roten Käfer setzten, um mit Skiern auf den Jostedalsbreen zu gehen. Ich war es, die immer so traurig gewesen war, dass ich es niemals schaffen würde, lebenssatt zu sein. Und plötzlich hatte ich einen versöhnlichen Glauben an ein ewiges Leben nach dem irdischen gefunden.
    Schon vom zweiten oder dritten Tag nach unserer Rückkehr an stapelten sich in unserer kleinen Wohnung die Bücher über Phänomene, die du immer als »übernatürlich« bezeichnet hast. Ich glaube, es ist dir nicht aufgefallen, dass ich außerdem die Bibel las. Du konntest damit nicht umgehen. Du hattest keinen Glauben, der es mit meiner neuen Orientierung hätte aufnehmen können. Dir kam das alles vor wie ein Verrat. Wir zwei waren unsere eigene Glaubensgemeinschaft gewesen. Jetzt hatte die Gemeinde, zu der ich gehörte, nur noch ein Mitglied.
    Denn so war es und nicht umgekehrt. Nicht ich war nicht in der Lage, deinen Atheismus zu tolerieren. So war es wirklich nicht. Ich konnte nur auf die Dauer nicht mit deiner kopfschüttelnden
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