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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
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ich glaube, es hat dir gefallen. Es muss eine der letzten physischen Zärtlichkeiten zwischen uns gewesen sein, und ich habe geantwortet: Aber das Tuch, Steinn. Wenn sie nicht ernstlich verletzt war, warum hätte sie da oben in der Kälte das Tuch abnehmen oder verlieren sollen?
     
    Ich weiß nicht, ob du deinen Theorien besonderen Glauben geschenkt hast. Du selbst hast sie einen Versuch genannt, eine rationale Erklärung zu finden. Und der ist natürlich erlaubt,Steinn. Nur war das Besondere an der Preiselbeerfrau ja nicht, dass sie genauso aussah wie die Frau, die wir angefahren hatten. Das Besondere war die Art, wie sie plötzlich in dem Wäldchen auftauchte, während wir den Fingerhut anfassten – diese leuchtend roten Blüten, die sich so weich und lebensfrisch anfühlten – , und die Art, wie sie dann ebenso plötzlich wieder verschwand. Ich hatte längst angefangen, meine eigene spiritualistische Deutung der Sache zu entwickeln, und jetzt, ich meine, im Auto auf der Fahrt nach Hause, auf der ganzen Strecke nach Gol und Nesbyen und weiter in Richtung Krøderen, Sokna, Hønefoss und Sollihøgda, hast du mir auch aufmerksam zugehört. Ich bin überzeugt, nicht nur aus Rücksicht. Denn noch immer war alles ganz frisch, und du warst zutiefst verunsichert. Ich habe nichts über das Buch gesagt, in dem ich am Morgen zuvor, während du noch schliefst, eine Stunde lang gelesen hatte. Aber war es nicht seltsam, dass wir auf dieses Buch so kurz vor unserer Begegnung mit der Preiselbeerfrau gestoßen waren?
     
    Nach und nach ging mir auf, dass man die Begegnung mit ihr auch als Verheißung auffassen konnte. Wir beide hatten immer dasselbe intensive Lebensgefühl verspürt, aber auch dieselbe abgrundtiefe Verzweiflung, weil eines Tages alles unwiderruflich vorbei sein würde – und plötzlich war uns ein Zeichen gegeben worden, dass wir hier nur auf Durchreise waren und dass es für unsere Seelen ein Dasein danach geben würde. Ihr Lächeln hatte etwas Monalisa-haftes gehabt, schelmisch und vielsagend war es gewesen. Komm! Uns wurde ein großes Geschenk gemacht. Und noch heute, während ich das hier schreibe, würde ich diesen Triumph gern mit dir teilen. Es braucht noch nicht zu spät zu sein.
    Und es gab noch etwas, an das zu denken guttat: Die Frau mit dem roten Tuch befand sich nicht mehr in einer elendenLage. Machte uns das nun weniger schuldig? Wir hatten das irdische Dasein der Frau beendet, denn natürlich war ihr Körper gestorben, ob nun sofort oder in der Woche danach, und daran zu denken war immer noch fürchterlich. Aber die Preiselbeerfrau hatte uns offenbart, dass sie nur in eine andere Dimension übergetreten war. Hatte sie sich uns deshalb gezeigt? Um uns zu verzeihen und uns neuen Lebensmut zu geben? Zu mir sagte sie: »Du bist die, die ich war, und ich bin die, die du sein wirst.« Mach dir keine Sorgen, wollte sie damit sagen. Du bist wie ich. Du wirst niemals sterben … Und auch dir hatte sie Trost zu bieten: »Du hättest ein Knöllchen kriegen müssen, mein Junge.« Aus ihrer Sicht, ich meine, aus ihrer neuen Sicht hattest du dir also nichts Schlimmeres zuschulden kommen lassen als einen Verstoß gegen die Verkehrsregeln, wie er jedem von uns passieren kann, solange wir im irdischen Schlamm herumwaten. Mehr war nicht gewesen, denn unsere Körper mögen zerbrechlich und vergänglich sein, aber danach gibt es ein reineres und stabileres Dasein.
    Genau genommen hat sie uns also beiden dasselbe gesagt.
     
    Dann waren wir auch schon zu Hause und an unser Schweigeversprechen gebunden. Aber das Trauma saß tief, und wann immer wir uns anschauten, wurden wir an unsere Schuld und unsere Schande erinnert, jedes Mal, wenn wir zusammen ein Spiegelei brieten oder einander eine Tasse Kaffee oder Tee einschenkten.
    Trotzdem bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es nicht in erster Linie die Schuldgefühle waren, wegen der wir nicht mehr miteinander leben konnten. Die Schuldgefühle hätten wir irgendwann hinter uns lassen können. Ich glaube, wir wären irgendwann zusammen zur Polizei gegangen und hätten uns gestellt. So einfach wäre es gewesen, Steinn! Wir hättendie Strafe und die Schande auf uns genommen, wir hätten sie ertragen müssen, aber wir hätten einander gut beigestanden.
    Du hast bestimmt nicht vergessen, was wir getan haben, bevor wir schließlich alles unter den Teppich kehrten. Wir haben bei der Polizei angerufen, wenn auch nur anonym. Wir fragten, ob es auf der Passhöhe an der Grenze
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