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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
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darauf folgenden Wochen hatte ich manchmal Angst, mich mit dir im selben Zimmer aufzuhalten. Aber ich habe nichts unternommen. Ich hielt den Atem an und hoffte, dass du irgendwann zurückfinden würdest. Aber bevor es so weit kommen konnte, hast du ein paar von deinen Sachen zusammengepackt und bist ausgezogen. Ich habe mich danach viele Jahre lang nach dir gesehnt. Ich dachte, du könntest jederzeit wieder vor der Tür stehen. Oder mitten in der Nacht die Wohnungstür aufschließen, denn du hattest deinen Schlüssel mitgenommen. Ich lag in dem breiten Doppelbett und sehnte mich nach dir, aber ich hatte auch Angst, du könntest zurückkommen, bevor du wieder die Solrun geworden warst, die ich gekannt hatte. Nach einigen Jahren brachte ich dann ein Sicherheitsschloss an.
     
    Ich lebe noch immer mit der »Preiselbeerfrau« als dem einen rätselhaften Geschehnis in meinem Leben. Aber wir waren damals noch so jung. Und es ist mehr als dreißig Jahre her. Ich kann mich nicht wirklich erinnern.
     
    Ja, Steinn.
     
    Was soll das heißen?
     
    Jetzt steht er wieder da, und ich kann mich nicht konzentrieren. Ich kann nicht dreißig Jahre zurückdenken, wenn er vor mir auf der Leiter steht und den Pinsel in einen Eimer mit grüner Farbe tunkt. Muss man eigentlich unbedingt zwei Farbschichten auftragen? Und wenn ja, soll man nicht einen Tag warten, bis die erste Schicht durchgetrocknet ist?
     
    Dann tu doch zwischendurch etwas anderes. Ich bin noch zwei Stunden hier.
     
    Ich habe mir ein Glas Apfelsaft mit Eiswürfeln geholt, und was für ein Glück: Die Beine sind samt Aluminiumleiter verschwunden. Ich hoffe nur, er kommt nicht zurück und legt noch einen Anstrich nach.
     
    Also: Agnostiker, meine Güte! Wir waren lebende Puppen. Weißt du noch: Wir hatten dieses magische Lebensgefühl und glaubten, wir hätten es exklusiv. Wir erschufen uns einen verzauberten Platz ein bisschen abgehoben und abseits, unseren Außenposten, wie wir sagten, so konnten wir alles mit schrägem Blick von oben betrachten, fast so, als ob wir unsereeigene Religion gegründet hätten. Das haben wir sogar gesagt. Wir sagten, wir hätten unsere eigene Religion.
    Und wir behielten sie auch nicht für uns, eine Zeitlang waren wir regelrecht missionarisch unterwegs. Erinnerst du dich an die Samstage, als wir mit Tüten voller Zettel durch die Stadt liefen? Wir verteilten die Zettel wie Flugblätter. Am Vorabend hatten wir auf einer alten Schreibmaschine kleine Botschaften verfasst: WICHTIGE MITTEILUNG AN ALLE BÜRGERINNEN UND BÜRGER: DIE WELT IST HIER UND JETZT!
    Wir müssen es ein paar Tausend Mal geschrieben haben. Wir schnitten die Zettel sorgfältig aus, falteten sie zusammen und fuhren mit der Straßenbahn zum Nationaltheater. Dort stellten wir uns beim Springbrunnen oder beim Eingang zur Holmenkollbahn auf und säten unsere Gedankenkörner aus. Wir wollten unsere Mitmenschen aus dem wachrütteln, was uns als spiritueller Dämmerschlaf erschien. Das machte Spaß. Viele reagierten mit einem freundlichen Lächeln, überraschend viele aber auch seltsam aggressiv. Manche Menschen fühlen sich angegriffen, wenn man sie daran erinnert, dass sie existieren.
    Zu Beginn der siebziger Jahre war es außerdem nicht politisch korrekt, sich einem müßigen Staunen über das Dasein hinzugeben. Viele Linke hielten es für konterrevolutionär, darauf hinzuweisen, dass das Universum ein Rätsel ist. Es ging nicht darum, die Welt zu verstehen, sondern sie zu verändern.
    Die Idee mit den Zetteln hatten wir aus einem bescheuerten Esoterikblättchen, und ich meine, wir fantasierten sogar davon, auf einer Uni-Fete mit einem alternativen Orakel aufzuwarten. Weißt du noch? Auch eine alternative Demo wollten wir auf die Beine stellen, zum 2. Mai zum Beispiel. Zu mehr als einer Handvoll Parolen hat es allerdings niegereicht. Immerhin konnten wir uns auf Vorbilder berufen: Hatten die protestierenden Studenten in Paris nicht auch »Der Tod ist konterrevolutionär« oder »Alle Macht der Fantasie« an die Mauern der Sorbonne geschrieben? Wir stellten uns einen ganzen Demonstrationszug mit solchen Parolen vor. Du warst so erfinderisch, Steinn.
     
    Wir gingen viel in Galerien und Konzerte damals – nicht in erster Linie, um Kunst oder Musik zu erleben, sondern um die lebenden Puppen zu betrachten, die man dort traf. Seit wir Hesses »Steppenwolf« gelesen hatten, nannten wir solche Spektakel »magisches Theater«. Oder wir setzten uns ins Café und beobachteten sie
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