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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
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gesehen . Das bekannteste Beispiel ist natürlich Jesus. Wir leben heute nur in einer durch und durch materialistischen Kultur, die den Kontakt mit dem Geistigen fast vollständig abgeschnitten hat – vom Jenseitigen ganz zu schweigen. Aber lies Shakespeare, lies die isländischen Sagas, wirf noch einmal einen Blick in die Bibel oder Homer. Oder hör dir an, was die verschiedensten Kulturen von ihren Schamanen und Ahnen erzählen.
     
    Weißt du, ich glaube, diese Szene damals könnte vor allem ein Trost für uns gewesen sein. Denn das, was du ihren »Auftritt« nennst, hatte etwas, woran ich seither unzählige Male denken musste. Sie hat uns nicht vorwurfsvoll oder voller Hass angesehen. Sondern voller Milde. Sie hat gelächelt. Sie war schon auf die andere Seite übergewechselt, und dort gibt es keinen Hass. Wo es keine Materie gibt, gibt es natürlich auch keinen Hass.
    Damals war es dennoch für uns beide ein erschütterndes Erlebnis, auch für mich. Wir waren außer uns vor Angst, aber das waren wir eigentlich schon seit einer Woche. Wenn sie sich neulich wieder gezeigt hätte, hätte ich sie mit offenen Armen empfangen.
    Aber diesmal hat sie sich nicht gezeigt …
     
    Es gibt keinen Tod, Steinn. Und es gibt keine Toten.

2
     
    Da bin ich wieder. Sitzt du noch immer vorm Computer?
     
    Ich laufe um ihn herum, Steinn. Was sagt der neue Klimabericht eigentlich?
     
    Nichts Gutes. Es sieht so aus, als wären die Berichte des Klimaausschusses der UN bisher zu konservativ gewesen. Sie haben zu wenig Rücksicht auf die sogenannten Rückkopplungsmechanismen genommen. Kurz zusammengefasst geht es dabei darum, dass wärmere Temperaturen zu immer noch wärmeren Temperaturen führen. Wenn Schnee und Eis in der Arktis schmelzen, wird weniger Sonnenlicht reflektiert und die Erde insgesamt stärker erwärmt. Das wiederum führt dazu, dass der Permafrost schmilzt und neue Klimagase freigesetzt werden, zum Beispiel Methan. Es gibt noch mehr solche Mechanismen, und womöglich nähern wir uns bald dem fatalen Punkt, an dem das gesamte Klima auf dem Planeten kippt. Von da an gäbe es dann keinen Weg mehr, eine globale Katastrophe zu verhindern. Vor nicht allzu langer Zeit haben die meisten von uns noch geglaubt, dass es trotz allem noch ein halbes Jahrhundert dauert, bis die Arktis im Sommerhalbjahr vollständig eisfrei sein wird. Jetzt sehen wir, dass dieser Prozess viel schneller abläuft als erwartet, vielleicht sind es nur noch zwei Jahrzehnte. Dass das Eis im Norden verschwindet, trägt wiederum zur Beschleunigung der Gletscherschmelze in Asien, Afrika und Südamerika bei, mit der Folge, dass diese wichtigen Wasserreservoire verloren gehen und die Flussläufe für Teile des Jahres trocken fallen, worunter wiederum die Ernten und die Trinkwasserversorgung für Abermillionen Menschen leiden. Und nicht nur Menschen sind verletzlich: Der Bericht zeigt, dass bis zu fünfzig Prozent der Pflanzen- und Tierarten auf der Welt bedroht sind.
    Was machen wir mit unserem Planeten? – Das ist die Frage. Wir haben nur den einen, und wir müssen ihn mit denen teilen, die nach uns kommen.
     
    Aber wir wollten über uns beide reden. Soll ich einfach weitermachen?
     
    Ja. Ich gehe ins Wohnzimmer und räume Zeitungen weg, aber ich komme zurück, sobald ich das Mailsignal höre.
     
    Natürlich habe ich das Bild von Magritte in lebhafter Erinnerung, wir hatten es schließlich als Plakat im Schlafzimmer hängen. Gerade habe ich es auch im Netz wiedergefunden. Es trägt den Titel Le Château des Pyrénées und stellt eine frei schwebende Welt dar. So haben du und ich es jedenfalls immer gedeutet. Wir waren Agnostiker. Wir mochten nicht ohne Weiteres das uralte Argument akzeptieren, wonach alles eine Ursache haben, es also einen »Gott« geben muss, der die Welt erschaffen hat. Wir haben darüber diskutiert, ob es über oder hinter all dem, was wir Universum nennen, eine Art höhere Instanz gibt. Aber wir glaubten beide nicht an irgendeine Form der »Offenbarung« durch höhere Mächte. Zum Ausgleich staunten wir die ganze Zeit darüber, dass die Welt und wir in ihr existierten.
    Fast genau dasselbe Lebensgefühl habe ich heute noch, Solrun. Ich werde nie aufhören, darüber zu staunen, dass es eine Welt gibt. Was immer sich da oben in dem Birkenwäldchen bewegt hat, ist im Vergleich dazu trotz allem ein sehr viel kleineres Mysterium, ja, es wird geradezu marginal, wenn du mich fragst. Zirkuskunststücke und Varietétricks werden mich niemals
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