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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
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etwas Frisches, Jungenhaftes.
    Trotzdem bist du womöglich blind. Womöglich bist du zu engstirnig und zu vernünftig zugleich.
     
    Erinnerst du dich an das Bild von Magritte, auf dem ein riesiger Felsbrocken frei über der Landschaft schwebt – auf dem Felsbrocken steht ein kleines Schloss, glaube ich. Du kannst dieses Bild nicht vergessen haben.
    Aber wenn du heute zum Zeugen eines ähnlichen Phänomens würdest, würdest du garantiert versuchen, es wegzudiskutieren. Vielleicht würdest du sagen, das, was du gesehen hast, sei arrangiert gewesen. Der Stein sei hohl gewesen und mit Helium gefüllt. Oder würde von einem ausgeklügelten System unsichtbarer Räder und Seile gehalten.
    Ich bin ein viel schlichteres Gemüt. Ich würde die Arme nach dem Felsbrocken ausstrecken und mein »Halleluja« oder »Amen« erschallen lassen.
     
    In deiner ersten Mail schreibst du: »Manchmal sagen wir: Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Aber es ist gar nicht sosicher, ob wir dann auch wirklich glauben müssen, was wir sehen …«
    Ich muss zugeben, dass diese Aussage mich bedenklich stimmt. In meinen Ohren klingt es unempirisch, den eigenen Sinneseindrücken nicht zu trauen. Es klingt ehrlich gesagt ein wenig mittelalterlich …
    Wenn damals die Sinne etwas berichteten, das nicht mit Aristoteles in Einklang zu bringen war, dann irrten sich eben die Sinne, und als die Beobachtungen der Bahnen von Himmelskörpern nicht dem geozentrischen Weltbild entsprachen, wurde rasch der Hokuspokus der Epizyklen eingeführt, um zu erklären, was man beobachtete. Die Diener der Kirche und der Inquisition hatten dazu noch eine Schere im Kopf und weigerten sich, durch Galileos Fernglas zu blicken. Aber wem erzähle ich das …
    Hast du dir schon einmal überlegt, dass wir zwei wirklich etwas Ähnliches wie den Magritte’schen Felsbrocken gesehen haben, etwas, das frei über Moos und Heidekraut schwebte. Ein Wunder nenne ich es. Und lass mich hinzufügen: Wir haben genau dasselbe beobachtet, wir waren darüber ganz einer Meinung.
     
    Waren wir das wirklich?
     
    Ganz sicher, ja. Aber um auf unser Wiedersehen zurückzukommen, so können wir gern einen Versuch machen und so tun, als gäbe es um uns keinerlei Schicksalsfäden …
     
    Wie meinst du das?
     
    Vielleicht ist unsere »zufällige« Begegnung auf etwas so Banales wie ein Stück geschickte Telepathie zurückzuführen. Obwohl das für dich vielleicht keine Rolle spielt, da du ja schon beschlossen hast, auch nicht an Gedankenübertragung zu »glauben«.
     
    Vielleicht solltest du mir trotzdem eine Chance geben und wenigstens einen Blick durch mein Galileo-Fernglas werfen?
     
    Ich kann die Schwerkraft nicht erklären, die existiert einfach. Und natürlich schaue ich gern durch dein Galileo-Fernglas. Wenn du ein Dutzend Ferngläser hättest, würde ich durch alle schauen. Aber jetzt reich mir erst mal das erste.
     
    Für Niels Petter und mich war das ein ganz spontaner Ausflug, und ich bin mir sicher, dass der Vorschlag, einen Tag in Fjærland zu verbringen, von mir stammte. Wir wollten die Antiquariate im Bücherdorf durchstöbern und das neue Gletschermuseum sehen. Wir waren eigentlich schon auf der Heimfahrt von Ostnorwegen nach Bergen, aber nach so vielen Jahren musste es endlich möglich sein, einen Abstecher an den Ort zu machen, auch wenn es sicher wehtun würde. Es kam wie eine plötzliche Eingebung. Der Gedanke tauchte einfach in mir auf.
    Du deinerseits hattest einen viel längeren Planungshorizont. In dem Fall musst du also der Sender gewesen sein, und ich war die Empfängerin. Es war normal, dass du an mich gedacht hast, schließlich wolltest du auch zum ersten Mal wieder dorthin. Es war aber nicht unbedingt nötig, dass du an mich gedacht hast. Was ich sagen will, ist, dass man es nicht merken muss, wenn man sendet oder empfängt. Dumerkst auch im Kopf nichts, wenn du denkst. Sogar wenn du an etwas überaus Dramatisches, Gewaltsames oder Trauriges denkst, merkst du nicht, dass es in deinem Kopf knirscht, klirrt oder quietscht. Das liegt daran, dass die Gedanken meist nichts mit dem Körper oder mit körperlichen Prozessen zu tun haben.
     
    Die allereinfachste Erklärung dafür, dass wir zur selben Zeit wieder an dem Ort aufgetaucht sind, der damals zum schönsten und bittersten in unserem Leben geworden war, ist meiner Ansicht nach die Telepathie. Deine Erklärungen oder Ausflüchte sind viel komplizierter, und deine Berechnungen sind ein einziger verzweifelter
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