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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
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einzeln. Jeder und jede von ihnen war ein Universum für sich. Haben wir sie nicht auch »Seelen« genannt? Davon bin ich überzeugt. Wir betrachteten schließlich keine mechanischen Puppen, sondern lebende. So haben wir gesagt. Weißt du noch, wie wir im Café in der Ecke sitzen und uns komplizierte Geschichten über sie ausdenken konnten? Manche solche »Geister« nahmen wir sogar mit nach Hause, um sie an den folgenden Tagen weiter zu bedichten. Wir gaben ihnen Namen und dachten uns komplette Lebensgeschichten für sie aus. Wir bauten an einem kompletten Pantheon fiktiver Bezugspersonen. Die fast hemmungslose Verehrung des Menschen war ein wichtiges Element in unserer Religion.
    Und irgendwann hängten wir das Magritte-Plakat an die Schlafzimmerwand, ich glaube, wir hatten es im Henie Onstad Kunstzentrum auf Høvikodden gekauft …
    Apropos Schlafzimmer: Wir konnten mitten am Tag ins Bett gehen, am liebsten mit einer Flasche »Champagner« und zwei Wassergläsern auf dem Nachttisch. Wir lasen einander stundenlang laut vor, wir lasen Stein Mehren und Olaf Bull, das erlaubten wir uns, auch wenn die sogenannte»Zentrallyrik« damals unter Acht und Bann gestellt war. Aber wir lasen auch Jan Erik Vold, absolut alles von ihm. Nicht zu vergessen »Schuld und Sühne« und den »Zauberberg«, denn auch ganze Romane konnten uns zu Bett- und Champagnerprojekten werden. Was wir Champagner nannten, hieß Golden Power. Süß schmeckte es, und billig war es, aber es haute ordentlich rein, daher der Name.
    Wir fanden es so schön, Körper aus Fleisch und Blut zu sein. Es war so schön, Mann und Frau zu sein, wir genossen es. Aber gerade im körperlichen Glück lag auch die Erinnerung daran, dass wir sterblich waren. Der Herbst beginnt im Frühling, sagten wir. Wir waren Mitte zwanzig und hatten beide schon das Gefühl, allmählich alt zu werden.
    Das Leben war ein Wunder, und wir pochten auf unser Recht, es jederzeit zu feiern. Dabei konnte es sich um einen spontanen Waldspaziergang in einer Sommernacht ebenso handeln wie um eine spontane Autofahrt. Lass uns nach Schonen fahren, sagtest du, und fünf Minuten später saßen wir im Auto. Wir waren beide noch nie dort gewesen und hatten keine Ahnung, wo wir wohnen könnten.
    Erinnerst du dich, wie wir nach langer Fahrt dieses berühmte Café erreichten, das sie Lundgren-Mädchen auf Skäret nennen? Wir lagen im Gras und taten lange kein Auge zu, weil wir uns vor Lachen nicht einkriegen konnten. Als wir endlich doch einschliefen, wurden wir von einer Kuh geweckt. Und wäre es nicht die Kuh gewesen, hätten uns Sekunden später Ameisen aufgescheucht. Wir sprangen wie die Irren herum und versuchten uns das fiese Krabbelzeug abzuwischen, aber sie waren nicht nur auf unseren Kleidern, sondern auch dazwischen und darunter. Du warst so was von sauer auf die »schwedischen Ameisen«. So hast du sie genannt. Für dich war das Ganze eine Art persönliche Beleidigung.
     
    Mit Skiern auf den Jostedalsbreen zu gehen, war auch so eine Eskapade. Es war an einem Tag im Mai vor über dreißig Jahren. Wir gehen mit Skiern auf den Jostedalsbreen, hast du eines Nachmittags verkündet, und das war als Befehl aufzufassen, denn wir hatten ein Abkommen, wonach der andere solchen Einfällen widerspruchslos nachzugeben hatte. In wenigen Minuten hatten wir gepackt und fuhren los. Wir würden irgendwo in den Bergen oder in Lærdal übernachten. Oder im Auto schlafen. Wir waren wild und hatten vor nichts Respekt. Als wir den Fjord erreichten, wollten wir mit den Skiern auf dem Rücken sofort zum Gletscher aufsteigen. Wir hatten von einer Steinhütte gehört, in der man übernachten konnte, wenn es zu spät wurde, um noch auf Skiern loszugehen. Wir hatten beide nie einen Gletscherkurs besucht, wir führten uns absolut verantwortungslos auf. Aber es wurde auch nichts aus diesem Ausflug auf den Gletscher. Zum ersten Mal stimmte etwas nicht, du weißt, was ich meine, und wir blieben eine ganze Woche im Hotel, bis wir kleinlaut nach Hause fuhren. Es war kein billiger Aufenthalt, es gab ja keine Ermäßigung für Studierende, aber wir hatten andere Probleme als unsere schwache Finanzlage, die uns beschäftigten. Schecks hatten wir außerdem.
     
    Ich schreibe das alles, um dir im selben Atemzug zu sagen, dass ich heute noch genau dasselbe verzauberte Lebensgefühl habe. »Aber besitzt du noch immer deine alte Fähigkeit, dich über jede Sekunde zu freuen, die du hier und jetzt lebst?« So fragst du, und die Antwort
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