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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
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lautet ja.
    Dennoch ist heute vieles anders, denn es ist etwas dazugekommen in meinem Leben, im Grunde eine ganze Dimension. Du fragst: Kannst du noch immer eine grenzenlose Trauer angesichts der Tatsache empfinden, dass das Leben so kurz ist, so kurz? … Können dir noch immer Tränen in dieAugen treten, wenn du an Wörter wie Alter und Lebenszeit denkst? Darauf kann ich heute mit einem befreiten Nein antworten. Ich weine nicht mehr. Was das betrifft, was mich erwartet, lebe ich in einem Zustand … der Ruhe.
    Immer noch macht mir mein körperliches Dasein große Freude, wenn auch nicht mehr im selben hohen Maß wie damals. Aber nun lebe ich außerdem mit meinem Körper als einer bloßen Hülle, als etwas Äußerlichem also und Unwesentlichem. Er ist nichts, womit ich mich noch sehr lange werde abschleppen müssen. Heute bin ich davon überzeugt, dass das, was ich ich nenne, den Tod meines Körpers überleben wird. Ich erlebe meinen Körper nicht mehr als mich. Er ist nicht mehr ich oder mein als die alten Kleider in meinem Kleiderschrank. Die werde ich auch nicht mitnehmen. So wenig wie die Waschmaschine. Oder das Auto und die Kreditkarte.
    Darüber erzähle ich gerne mehr und mehr als gerne. Ich lese zur Zeit viel in der Bibel. Also nicht nur Bücher über Parapsychologie! Für mich schließt das eine das andere nicht aus. Ist es nicht bezeichnend, dass du beides ausschließt?
    Und nun frage ich dich: Woran glaubst du heute? Ich weiß, woher du kommst, aber ist auch für dich etwas Neues dazugekommen?
     
    Bevor ich es vergesse: Ich danke dir für deine letzte Mail. Du warst darin ein bisschen weniger tough als in den anderen. Du streckst die Hand aus. Aber diese Hand ist leer, Steinn. Und ich hätte solche Lust, etwas Wunderbares hineinzulegen. Eines Tages möchte ich dir einen quicklebendigen Beweis dafür liefern, dass es keinen Tod gibt. Ich möchte es zu gern und werde es versuchen. Warte ab! Für den Augenblick bin ich schon dankbar, dass du die Tür zwischen uns wenigstens einen Spaltbreit öffnen willst, mehr als dreißig Jahre, nachdem sich alles für uns verschlossen hat.
    Es tat weh zu lesen, dass du am Ende Angst vor mir hattest. Das hast du nie ausgesprochen. Ich dachte, du wolltest dich mir nur verschließen, weil ich dich mit meinen neuen Vorstellungen langweilte.
    Auf jeden Fall sind wir es uns schuldig, daran festzuhalten, was wir einander waren, bevor du weißt schon was geschah und ich deiner Meinung nach den Verstand verloren habe. Den Verstand habe ich niemals verloren, aber was geschehen ist, war dramatisch. Ich bin abrupt von einer Lebensanschauung zu einer vollkommen anderen übergewechselt. Und besonders dramatisch wurde dieser Bruch, weil die Gemeinde, die ich verließ, nur zwei Mitglieder hatte.
    Aber an alles andere erinnerst du dich durchaus? An unsere Eskapaden zum Beispiel? Ich glaube, du erinnerst dich an genau das, woran du dich erinnern willst.
     
    Natürlich erinnere ich mich, und die fünf Jahre, die wir zusammen waren, kamen mir immer wie der eigentliche Rahmen um mein Leben vor. Ich habe oft an sie zurückgedacht.
    Wir beschlossen, nach Trondheim zu gehen, und wir sind gegangen. Wir beschlossen, auf dem Mjøsa zu segeln, und wir sind gesegelt. Wir saßen im Künstlerhaus und hatten die Idee, mit dem Fahrrad nach Stockholm zu fahren. Also gingen wir nach Hause, schliefen ein paar Stunden und fuhren mit dem Fahrrad nach Stockholm.
     
    Unser verrücktester Einfall war aber doch die Sache auf der Hardangervidda. Wir hatten uns in den Kopf gesetzt, ein paar Wochen wie Steinzeitmenschen zu leben. Wir fuhren mit dem Zug in die Berge und fanden unsere Wohnstätte auf einem höhlenähnlichen Absatz unter einem Felsvorsprung. Es war an einem Berg südwestlich von Haugastøl. Warme Kleider und Wolldecken hatten wir eingepackt. Wir hatten zwei Pakete Proviant, aber nur für die ersten Stunden, während wir unser Lager aufschlugen, dazu Knäckebrot und Kekse für den äußersten Notfall. Wir hatten einen Kochtopf, eine Rolle Angelschnur, ein Jagdmesser und zwei Schachteln Streichhölzer. Das war alles. Das heißt, einen echten Anachronismus gab es doch: Du hattest die Pille dabei. Die Pillenpackung war außerdem unser Kalender, denn eine andere Zeitrechnung hatten wir nicht. Am ersten Tag lebten wir vor allem von Beeren, von Krähenbeeren, Multebeeren, Blaubeeren, und stärkten uns mit heißem Wacholdertee. Am nächsten Tag fanden wir Vogelknochen, aus denen wir Angelhaken machten. Wir
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