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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
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so fesseln können wie Steppenlandschaften und Regenwälder, die Milliarden von Galaxien des Weltalls und die Abermilliarden von Lichtjahren, die zwischen ihnen liegen.
    Wie du damals finde ich es noch immer spannender, dass die Welt selbst ein Rätsel ist, als dass mich Rätsel in der Welt interessieren würden. Und ich staune mehr über unser unergründliches Gehirn als über die vielen zusammenhanglosen Geschichten vom »Übersinnlichen«.
    Ich glaube auch nicht, dass man die Paradoxa der Quantenphysik auf die Physik im größeren Maßstab übertragen kann, geschweige denn auf »geistige« Phänomene wie die Gedankenübertragung zwischen höherstehenden Säugetieren. Aber dass es überhaupt höherstehende Säugetiere gibt, und dass ich selbst zu ihnen gehöre, das fasziniert mich ungeheuer. Du kannst überhaupt lange suchen, bis du jemanden findest, der mehr über seine eigene Existenz staunt als ich. Das ist eine kühne Behauptung, aber ich wage es, sie aufzustellen. Vom Vorwurf kleinkarierter Vernunft fühle ich mich jedenfalls nicht getroffen.
     
    Aber was ist aus dir geworden? In welche Richtung hast du dich bewegt?
     
    Du schreibst, du hättest eine Art Gewissheit des Jenseitigen, und du behauptest, es gäbe keinen Tod. Aber besitzt du noch immer deine alte Fähigkeit, dich über jede Sekunde zu freuen, die du hier und jetzt lebst? Oder hat deine Orientierung auf das Jenseitige hin das Diesseitige verdrängt?
    Kannst du noch immer eine »grenzenlose Trauer« empfinden, weil das Leben »so kurz, so kurz« ist? Das waren einmal deine Worte. Treten dir noch immer Tränen in die Augen, wenn du an Wörter wie »Alter« und »Lebenszeit« denkst? Kommt es noch immer vor, dass dich ein Sonnenuntergang zum Weinen bringt? Ohne jede Vorwarnung konntest du plötzlich die Augen aufreißen und entsetzt ausrufen: »Eines Tages sind wir nicht mehr da, Steinn!« Oder: »Eines Tages gibt es uns nicht mehr!«
    Nicht alle Zwanzigjährigen können sich vorstellen, nicht zu existieren, jedenfalls können sie es nicht mit der Intensität, mit der du es konntest. An dir lag es, dass uns diese Vorstellung damals beinahe alltäglich erschien. Haben wir uns nicht deshalb immer wieder in die wildesten Unternehmungen gestürzt? Irgendwann brauchte ich gar nicht mehr zu fragen, warum du in Tränen ausbrachst. Ich wusste, warum, und du wusstest, dass ich es wusste. Also schlug ich vor, eine Wanderung in den Wäldern oder in den Bergen zu machen. Es gab viele solche Trostausflüge in die Wälder oder die Wildnis. Du hast solche Naturerlebnisse geliebt. Allerdings war deine Liebe zu dem, was du manchmal die »Allnatur« genannt hast, mehr ein Zustand unglücklicher Verliebtheit, denn dir war nur zu bewusst, dass dich das, was du so sehr liebtest, irgendwann im Stich lassen würde. In letzter Konsequenz, das war dir klar, würdest du dir selbst überlassen sein.
    So war das. Du hast ständig zwischen Lachen und Weinen gependelt. Unter einer dünnen Schicht von aufgekratzter Lebensfreude lag bei dir immer eine Trauer. Und mir ging es genauso. Wir waren zu zweit, aber ich glaube, deine Trauer war tiefer als meine. Deine Fähigkeit, dich zu begeistern und zu freuen, allerdings auch.
     
    Aber jetzt zur »Preiselbeerfrau«. Ich werde nicht versuchen, sie wegzudiskutieren, und es ist richtig, dass ich damals zusammengebrochen bin. Die Ähnlichkeit war einfach überwältigend. Wie konnte es sein, dass sie uns einholte?
    Nur: Als mir neulich die Hände zitterten, war es vor allem das Leben selbst, das mich erschüttert hat. Dreißig Jahre waren vergangen, als wir zwei wieder denselben Weg gingen, und plötzlich wurde mir so ungeheuer klar, wie es war, blutjung zu sein. Aber nicht nur das: Mir wurde auch klar, wie es war, wir zu sein. Und dann geschah etwas, damals, dort oben in dem Birkenwäldchen, das uns wie Hexerei erschien und das uns jäh auseinander riss.
    Natürlich habe ich auch deshalb deine Hand genommen, weil wir bald wieder dorthin kommen würden. Ich wusste ja noch, welchen Schock wir dort erlitten hatten. Ich wusste noch, wie entsetzt wir waren, und ich will nicht leugnen, dass ich wieder einen Hauch von Angst oder Schrecken verspürte. Aber es war nicht die Angst davor, wieder ein Gespenst zu sehen. Angst kann man auch davor haben, vom eigenen Wahnsinn eingeholt zu werden. Oder vom Wahnsinn anderer. Angst kann ansteckend sein. Wie der Wahnsinn.
    Du bist nach dem, was damals geschehen ist, nicht wieder du selbst geworden. In den
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