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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
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Krampf.
    Unser Zusammentreffen auf der Veranda war rechnerisch ungefähr so wahrscheinlich, als hätten wir von gegenüberliegenden Seiten des Globus Gewehrkugeln aufeinander abgeschossen, die mitten über dem Fjord dort oben zusammenstießen, worauf die beiden wie ein Gegenstand ins Wasser fielen. So etwas könnte man als übernatürlich bezeichnen. Oder meinetwegen als wundersame Präzision. Aber wie auch immer, ich finde es viel leichter zu begreifen, dass zwei Seelen, die einander einmal nahegestanden haben, aus der Entfernung über etwas kommunizieren können, zu dem beide eine tiefe emotionale Beziehung haben oder hatten. Du hast mir ein Signal geschickt, dass du wieder dorthin fahren wolltest, und ich habe das Signal empfangen. Und bin ebenfalls gekommen.
    Telepathie also. Dieses gut dokumentierte Phänomen, das ich als passende Erklärung für das ansehe, was du als »gewaltigen Zufall« abtust, ist etwas, an dem an vielen Universitäten überall auf der Welt experimentell geforscht wird. Pioniere wie das Ehepaar Rhine an der Duke University von North Carolina haben es schon in den dreißiger Jahren getan. Wenndu möchtest, schicke ich dir gern ein paar Literaturhinweise, ich habe eine ganze Bibliographie.
     
    Stimmt es nicht auch, dass die Quantenmechanik uns gezeigt hat, wie alles im Universum zusammenhängt, ich meine, bis hinab zum allerwinzigsten Teilchen?
    Mit der Hilfe einiger Kollegen habe ich mich in letzter Zeit nämlich ein wenig in die Quantenphysik eingelesen. An unserer Schule haben wir seit einem Jahr abends ein fachübergreifendes Kolloquium, wir nennen unseren Zusammenschluss In vino veritas, daran magst du sehen, wie locker das alles abläuft. Jedenfalls: Nachdem ich nun etliche Abende mit Physikern und Naturwissenschaftlern verbracht habe, kommt es mir nicht so vor, als hätte die moderne Physik die Welt weniger rätselhaft gemacht, als sie es zu Platons Zeiten war. Aber du kannst mich gern korrigieren, Steinn, wenn du glaubst, es besser zu wissen.
     
    Wenn zwei Teilchen, zum Beispiel zwei Photonen, einen gemeinsamen Ursprung oder Ausgangspunkt haben, dann getrennt werden und einander mit hoher Geschwindigkeit verlassen, werden sie trotzdem als Ganzheit weiter zusammenhängen. Auch wenn sie in unterschiedliche Richtungen in den Weltraum geschickt werden und schließlich eine Entfernung von Lichtjahren zwischen ihnen liegt, so bleiben sie doch miteinander verbunden. Beide tragen Informationen über die Eigenschaften des jeweils andern in sich, und das eine »Zwillingsteilchen« wird immer von dem beeinflusst werden, was mit dem anderen geschieht. Hier ist natürlich nicht von Kommunikation die Rede, sondern von Zusammenhang oder, wenn wir so wollen, »Nicht-Lokalität«. Auf Quantenniveau ist die Welt nämlich nicht-lokal. Das ist seltsam, vielleicht ebenso unbegreiflich wie die Schwerkraft, undEinstein stritt dieses Phänomen ab, weil es ihm als Provokation der Vernunft erschien. Doch inzwischen ist es durch Experimente bestätigt worden.
    Wir reden hier wohlgemerkt nicht über Telepathie, sondern über Telephysik. Obwohl ich glaube, dass seelischer Kontakt über große Entfernungen hinweg für den Menschen noch viel wesentlicher ist als für die Quantenmechanik – ganz einfach, weil wir die Geister des Universums sind. Schau zu den Sternen und Galaxien hinauf. Beobachte die vorüberziehenden Kometen und Asteroiden und gönne dir ein herzliches Lachen dabei. Mächtige Himmelskörper, und dennoch sind wir die lebenden Seelen in diesem Universum. Was können Kometen und Asteroiden? Was können sie wahrnehmen? Welches Bewusstsein ihrer selbst besitzen sie?
    Wenn ich abergläubisch wäre, würde ich sagen, dass Photonen ein Bewusstsein haben und aus der Ferne miteinander kommunizieren, indem sie einander Gedanken übertragen. Keine Sorge, das glaube ich nicht. Ich glaube nur, dass wir Menschen eine Sonderstellung haben. Wir sind die Geister im Theater des Universums!
    Steinn! Während du diesen Satz liest, jagen ein paar Milliarden Neutrinos durch dein Gehirn. Sie kommen von der Sonne, sie kommen von anderen Sternen in der Milchstraße, sie kommen aus ganz anderen Galaxien im Universum. Auch sie sind auf ihre Weise Ausdruck der Nicht-Lokalität des Universums.
    Ein anderes Paradoxon ist, dass quantenmechanische Teilchen sich einmal wie Wellen verhalten und einmal wie Teilchen. Experimente haben ergeben, dass ein Elektron, das ja ein kleines Punktteilchen oder ein »Ding« ist, durchaus zwei
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