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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
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verschiedene Schlitze oder Löcher in einer Wand oder einem Schirm auf einmal passieren kann. Das ist ungefähr so verblüffend, wie sich vorzustellen, dass ein einzelner Tennisballgleichzeitig durch zwei verschiedene Löcher im Zaun um einen Tennisplatz geschlagen wird.
    Ich bitte dich weder zu verstehen noch mir zu erklären, wie etwas Welle und Teilchen zugleich sein kann, oder einmal das eine und einmal das andere. Ich bitte dich nur darum, das Universum so zu akzeptieren, wie es nun mal eingerichtet ist. Wenn die Gesetze der Physik rätselhaft sind, rätselhaft für uns, meine ich, dann müssen sie das eben sein. Natürlich kann man bedauern, dass wir nicht alles zwischen Himmel und Erde erklären können, und für Poeten mag das eine angemessene Morgenübung sein – ich spreche von dem bekannten elegischen Kopfschütteln angesichts der Rätselhaftigkeit des Universums, in dem wir uns aufhalten – , aber bis auf Weiteres müssen wir dieser Tatsache ins Auge sehen.
    Dass du mir einen Gedanken sendest, den ich mehr oder minder bewusst empfange, mag aufgrund dessen, was wir heute mathematisch oder physikalisch erklären können, nicht zu verstehen sein. Aber es ist vielleicht auch nicht schwerer zu akzeptieren als die Quantenphysik.
    Oder was denkst du?
     
    Der britische Mathematiker und Astrophysiker James Jeans hat es einmal so ausgedrückt, dass das Universum immer mehr einem großen Gedanken als einer großen Maschine ähnle.
     
    Bei mir ist gerade ein nagelneuer Klimabericht eingegangen. Er ist noch schlimmer, als wir befürchtet hatten, und ich habe Anfragen von aufgescheuchten Journalisten, die unbedingt noch vor Redaktionsschluss einen Kommentar dazu haben wollen. Es gibt um diese Fragen ja eine regelrechte von den Medien geschaffene Hysterie. Jedenfalls muss ich dich kurz um Geduld bitten. Ich melde mich später am Nachmittag wieder. Lass mich dir bis auf Weiteres nur sagen, dass ich deine Überzeugung respektiere, und mehr noch: Egal zu welchen Ismen wir beide uns heute bekennen mögen, ich achte dich als Menschen sehr. Verzeih mir nur, wenn ich selbst nicht an sogenannte »übersinnliche Phänomene« glaube.
     
    Nun gut. Aber in dir gibt es viele Schichten, mein Lieber, vergiss nicht, ich habe dich einmal gut gekannt. Und jetzt werde ich etwas über die Preiselbeerfrau schreiben. Ich ahne schon, warum du dich dagegen wehren wirst, ich ahne es fast so, wie ich dich in der Nacht, in der du im Nebenzimmer geraucht hast, durch die Wand hindurch ahnen konnte. Hör mir nur bitte trotzdem zu.
    Damals hast du geweint, geschluchzt wie ein kleines Kind, und ich musste dich wiegen. Und was geschieht über dreißig Jahre später, als wir wieder dort oben sind?
    Du schreibst, dass du nicht an unbekannte Kräfte glaubst, die in unser Leben eingreifen. Aber als wir wieder vor dem Birkenwäldchen standen, hast du gezittert wie Espenlaub. Und ich sage, der Körper lügt nicht.
    Als wir näher kamen, hast du plötzlich nach meiner Hand gegriffen. Damals, vor Urzeiten, sind wir oft Hand in Hand gegangen, aber dass du jetzt wieder meine Hand genommen hast, war unerhört. Trotzdem habe ich es verstanden. Es lag ganz einfach daran, dass wir ganz in der Nähe waren und dass du dich an jemandem festhalten musstest. Weil du Angst hattest! Jedenfalls warst du nicht gerade ein Fels dort oben bei dem Birkenwäldchen. Du hattest Angst vor dem, was nicht von dieser Welt ist.
    Du hast starke Hände, Steinn. Aber deine Hand hat gezittert!
     
    Auch ich habe den Ernst des Augenblicks gespürt. Aber ich war besonnener als du, ich war mir meiner selbst sicherer, und das lag wohl daran, dass ich mir eine Art Gewissheit des Jenseitigen erarbeitet habe. Für mich ist das »Paranormale« normal. Ich war darauf vorbereitet, dass sie sich wieder materialisieren könnte. Obwohl »sich materialisieren« ganz sicher ein irreführender Ausdruck ist, denn sie war ja nicht materiell. Man hätte sie vielleicht nicht einmal fotografieren können. Sie war das, was wir eine »Erscheinung« nennen. Die Geschichte und die Parapsychologie wimmeln von Berichten über solche Phänomene, von Berichten über Menschen, die sich einem anderen Menschen gezeigt haben, obwohl die beiden in der physischen Welt Hunderte Meilen voneinander entfernt waren. Die Literatur ist auch reich an Berichten über Menschen, die von jemandem, der kürzlich erst – nein, nicht gestorben, sondern auferstanden ist, Botschaften erhalten haben. Menschen haben solche Menschen
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