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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
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Treppen von Skansen heruntergehst, und bei dem Anblick muss ich an einen spanischen Film denken. Im Übrigen kann ich dir bestätigen, dass der Gruß angekommen ist.
     
    Auf dem Weg bergauf durchs Mundalstal hast du mir erklärt, dass du die Existenz »sogenannter übernatürlicher Phänomene« bestreitest. Du glaubst auch nicht an Telepathie, hast du betont, oder an irgendeine Form von Hellseherei oder Eingebung – das alles, nachdem ich dir ein paar überzeugende Beispiele für solche Erscheinungen geliefert hatte. Vielleicht ist es bei dir so, dass du die Antennen, die du besitzt, nicht benutzt. Du willst dir die Scheuklappen nicht wegreißen, oder vielleicht willst du auch nicht einsehen, dass du manchmal nur »annehmen« kannst, was du für deine eigenen Einfälle hältst.
    Aber da bist du nicht der Einzige, Steinn. In unserer Zeit gibt es viel psychische Blindheit und viel geistige Armut.
    Ich dagegen bin so naiv, dass ich es nicht als schnöden Zufall abtun kann, dass wir plötzlich noch einmal zusammen auf dieser Hotelveranda standen. Ich glaube, es hat dabei eine Art Regie gegeben. Frag mich nicht, wie oder auf welche Weise, denn das weiß ich wirklich nicht. Aber es nicht zu verstehen bedeutet, die Augen zu verschließen. König Ödipus hat auch nicht gesehen, welche Schicksalsfäden sich um ihn webten, und als er es endlich sah, war er so beschämt, dass er sich selbst das Augenlicht genommen hat. Was sein Schicksal betrifft, war er ja die ganze Zeit schon blind gewesen.
     
    Plötzlich geht es zwischen uns zu wie beim Pingpong. Vielleicht sollten wir den ganzen Nachmittag so weitermachen? Dann komme ich an diesem schönen Sommertag auch noch ein wenig hinaus nach Ytre Sula. Was meinst du?
     
    Doch, lass uns miteinander reden. Ich habe Ferien, und hier gilt die ungeschriebene Regel, dass an einem Ferientag jeder macht, was er will. Ein bisschen streng sind wir nur mit den Mahlzeiten, die wir gemeinsam einnehmen. (Nur frühstücken darf jeder, wenn er aufsteht.) Aber jetzt liegt das Mittagessen noch nicht lange zurück, und ich habe bis zum späten Abendessen keine Verpflichtungen mehr. Wenn kein Wind aufkommt, können wir vielleicht auch wieder grillen.
    Und du? Wohin wird es mich an diesem Nachmittag noch ein wenig verschlagen, meine ich?
     
    Ich habe leider nichts zu bieten, was es mit deiner Umgebung aufnehmen könnte. Ich sitze in einem langweiligen Universitätsbüro in Blindern und werde auch hier sitzen bleiben, bis ich mich gegen sieben in Majorstua mit Berit treffe. Wir fahren nach Bærum und besuchen ihren alten, aber geistig noch frischen und überaus spirituellen Vater. Bis sieben ist es noch lange hin, wir haben also noch ein paar Stunden für uns.
     
    Vergiss nicht, dass ich fünf Jahre in Blindern studiert habe. Diese Jahre, Steinn … Für mich ist es exotisch genug, mich dorthin zurückzuträumen.
    Dass du Professor an der Uni Oslo werden würdest, hättest du dir früher sicher auch nicht träumen lassen. Wolltest du damals nicht an die Schule?
     
    Als du nicht mehr da warst, stand ich vor einem fast bedrohlichen Überschuss an Zeit, das hat mir den Doktor und ein Forschungsstipendium eingetragen. Aber vielleicht sollten wir noch nicht von »damals« reden. Ich bin neugierig darauf, wer du heute bist.
     
    Nun, ich bin jedenfalls Lehrerin geworden, darüber sprachen wir ja, und ich habe es wirklich nie bereut. Ich betrachte es als Privileg, meinen Lebensunterhalt damit verdienen zu können, dass ich jeden Tag einige Stunden mit jungen, engagierten Menschen verbringe, noch dazu, wo ich Dinge unterrichte, die mir wichtig sind. Es ist nicht nur ein Klischee, dass wir lernen, so lange wir leben. In jeder zweiten Klasse, die ich hatte, saß übrigens ein blonder Lockenkopf und erinnerte mich an dich und uns beide damals. Einmal sah dir einer übrigens wirklich ähnlich, er hatte sogar fast die gleiche Stimme.
    Aber jetzt hast du das Wort. Wie ich dir schrieb, halte ich es nicht unbedingt für einen Zufall, dass wir beide plötzlich wieder auf dieser Veranda standen …
     
    Da standen wir plötzlich, richtig. Aber das Wort »Zufall« weist ja gerade auf etwas hin, das statistisch gesehen nicht sonderlich wahrscheinlich ist. Ich habe einmal berechnet, dass die Chance, mit einem Würfel eine Serie von zwölf Sechsern zu würfeln, ich meine zwölf hintereinander, nicht größer ist als eins zu über zwei Milliarden. Das bedeutet nicht, dass es niemals zufällig passiert sein kann, dass
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