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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
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dass sich solche übernatürlichen Wesen den Naturgesetzen nicht zu beugen brauchen?
    Lass uns keine voreiligen Schlussfolgerungen ziehen. Hatte ich womöglich eine Erscheinung oder eine Vision? Nun, dort waren zweihundert Menschen, die genau dasselbe sahen wie ich. Waren wir also alle zusammen Zeugen von etwas Übernatürlichem, ich meine, sahen wir wirklich eine Elfe oder einen Waldgeist? Natürlich nicht. Das Ganze war arrangiert, für die Touristen, meine ich, und das Einzige, worüber ich in diesem Zusammenhang keine klare Aussage machen kann, ist der Stundenlohn dieser jungen Frau.
    Habe ich noch etwas vergessen? Ja. Denn diese junge Frau bewegte sich nicht auf natürliche Weise, vielmehr wechselte sie blitzschnell von einem Ort zum anderen. Wir haben es alle gesehen. Aber es war ein Trick! Wie viele Hulden an diesem Nachmittag am Kjosfos im Einsatz waren, weiß ich nicht. Ich gehe allerdings davon aus, dass sie, ob nun zu zweit oder zu dritt, alle für denselben Stundenlohn arbeiten.
    Ich schreibe dir das, weil mir einfällt, dass es etwas gibt, woran wir damals nicht gedacht haben, was wir aber dennoch in Betracht ziehen sollten, denn noch ist es dazu nicht zu spät. Ich meine die Möglichkeit, dass es mit dem Auftritt der Preiselbeerfrau eine ähnliche Bewandtnis gehabt haben könnte. Sie könnte irgendeine Rolle gespielt haben, sie könnte uns einen Streich gespielt haben, wer weiß. Vielleicht schlüpfte sie sogar öfter in die Rolle, und wir waren nicht ihre einzigen Opfer. Auf dem Dorf gibt es alle möglichen Käuze.
    War’s das, oder habe ich wieder etwas vergessen? Ja. Denn sie schien nicht nur aus dem Nichts und von nirgendwoher gekommen zu sein. Sie schien auch einfach im Erdboden zu versinken, nachdem sie ihren Auftritt absolviert hatte. Vielleicht war es sogar so. Vielleicht war sie ein Spaßvogel, der sich in irgendeine Grube fallen ließ. Oder in einen Reisighaufen, was weiß ich. Wir haben das Gelände ja nicht genauer untersucht. Die Wahrheit ist, dass wir die Beine in die Hand genommen haben, als wäre der Leibhaftige hinter uns her.
    Manchmal sagen wir: Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Aber es ist gar nicht so sicher, dass wir dann auch wirklich glauben müssen, was wir sehen. In besonderen Fällen sollten wir uns zumindest die Augen reiben, ehe wir ein Urteil fällen. Wir müssen uns dann fragen, wie etwas oder jemand uns dermaßen an der Nase herumführen konnte. Das haben wir damals nicht getan. Wir waren außer uns vor Angst. Wir waren außerdem aufgewühlt wegen all der Dinge, die ein paar Tage zuvor geschehen waren. Wenn einer von uns die Nerven verloren hätte, hätte er den anderen unweigerlich mitgerissen.
    Fühl dich jetzt bitte nicht zurückgestoßen! Ich habe mich sehr darüber gefreut, dich wiederzusehen, und noch immer ertappe ich mich bei einem Lächeln, wenn ich daran denke. Denn ich halte solche Zufallsbegegnungen beileibe nicht für gleichgültig oder sinnlos. Sie können sogar ungeheuer viel Sinn haben, einfach weil sie uns packen und uns prägen. Sie können außerdem entscheidend dafür sein, was als Nächstes mit uns geschieht.
    Dass wir ausgerechnet dort wieder zusammenkommen sollten! Und dann sind wir auch noch wieder zu der Berghütte hinaufgegangen. Wer hätte gedacht, dass sich so etwas wiederholen könnte!
     
    Eine vierstündige Wanderung ist nicht lang, wenn man öfter solche kleinen Ausflüge unternimmt. Aber nun waren seit dem letzten Mal ein paar Jahrzehnte vergangen, da sind vier Stunden sehr viel. Da wird der Unterschied zwischen der einen Begegnung und nichts überwältigend.
     
    Okay, Steinn. Es ist nett, von dir zu hören. Aber was du schreibst, erinnert mich daran, warum wir uns damals getrennt haben. Ein Grund war, dass wir damals wie heute bestimmte Dinge, die wir gemeinsam erlebt haben, auf höchst unterschiedliche Weise deuten. Ein anderer Grund war, dass du über meine Deutungen immer nur herablassend gesprochen hast.
    Trotzdem ist es wirklich nett, von dir zu hören. Du fehlst mir. Gib mir nur ein wenig Zeit, ich antworte, wenn ich bessere Laune habe.
     
    Ich wollte nicht herablassend klingen, aber ich kann mich auch nicht mehr genau erinnern, wie ich mich ausgedrückt habe. Was habe ich denn geschrieben? Habe ich nicht geschrieben, dass ich mich immer wieder bei einem Schmunzeln ertappe, wenn ich daran denke, dass wir uns wiedergesehen haben?
     
    Übrigens gibt es noch mehr, das ich dir erzählen muss. Ich war mit einer Fähre unterwegs,
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