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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch
Autoren: Jostein Garder
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und Rutledal den Fjord und fuhren weiter zu den Inseln von Solund. Wir hatten einen wunderbaren Tag dort draußen am offenen Meer, während du bei der Eröffnung dieses Klimazentrums warst. Natürlich habe ich dir die ganze Zeit Gedanken geschickt, ich meine, Erinnerungen und Momentaufnahmen von Dingen, die wir damals zusammen erlebt hatten, auch an den folgenden Tagen habe ich das immer wieder getan, sehr intensive Erinnerungen waren das, und einige davon haben dich also erreicht, als »Filmschnipsel« von Momenten, von denen du gar nicht mehr wusstest, dass du sie aufgenommen hattest …
    Wir waren am späten Donnerstagabend zu Hause in Bergen, und am frühen Freitagmorgen bin ich zum Strandkai gegangen, um die Solundir anlegen zu sehen. Sie fährt um acht Uhr von Bergen ab. Ich wusste, dass du an diesem Vormittagvon Balestrand aufbrechen würdest, das hattest du ja erzählt, und wo ich ohnehin so früh aufgestanden war, habe ich einen Morgenspaziergang von Skansen herunter über den Fischmarkt zum Strandkai gemacht. Um dir eine gute Fahrt zu wünschen, Steinn, um noch einmal Abschied zu nehmen. Irrational, ich weiß, aber ich war mir sicher, dass ich genau das wollte. Und jetzt erzähl mir nicht, mein Gruß hätte dich nicht erreicht. Ich fand es witzig, daran zu denken, dass du mit der Solundir fahren würdest, und ich stellte mir vor, dass du auch an mich und an unser Sommermärchen hier draußen denken würdest.
    Die Fähre ist nicht nach mir benannt. Wie du sagst, hat sie ihren Namen von der Inselgemeinde westlich im Meer bei der Mündung des Sognefjord, wo ich mich fast den ganzen Tag zuvor aufgehalten hatte, und wo ich jetzt sitze und beim Schreiben aufs Meer hinausblicke. Zum Glück sind die Beine jetzt verschwunden, sie haben doch ein wenig gestört, beim Aus-dem-Fenster-Schauen und beim Nachdenken …
     
    Solundir ist einfach die altnordische Mehrzahl von Solund, hier gibt es ja viele Hunderte von Solund-Inseln. Sól bedeutet »Furche«, und bedeutet »versehen mit«. Die Inseln von Solund sind also versehen mit Furchen. Das ist keine unpräzise Beschreibung der Geologie hier draußen. »Zerfurcht, wettergegerbt über dem Wasser …«
    Du weißt sicher noch, wie wir damals zwischen den psychedelischen Steinformationen Versteck gespielt haben. Sie sind aus bunten Konglomeraten entstanden, und du hast wahrscheinlich auch nicht vergessen, dass wir dort stundenlang Steine gesammelt haben, du Marmor, und ich irgendwelche roten Steine. Die liegen noch immer hier und leuchten, deine und meine. Ich lege sie in die Beete.
     
    Es stimmt, dass meine Großmutter Randi hieß, und es enttäuscht mich fast ein bisschen, dass du dir da nicht sicher bist, ihr wart doch so begeistert voneinander. Ich weiß noch, dass du meine Großmutter einmal als den wärmsten und schönsten Menschen bezeichnet hast, der dir je begegnet sei. Und sie ihrerseits stand immer wieder in dem kleinen Garten und sang beinahe vor sich hin: »Dieser Steinn, ja!« »Dieser Steinn« hatte etwas ganz Besonderes. Ein feinerer Kerl war Oma nie über den Weg gelaufen.
    Auch meine Mutter ist dort draußen aufgewachsen, das weißt du ja, da, wo sich heute die westlichste Siedlung des ganzen Landes befindet. Ihr Mädchenname war tatsächlich Hjønnevåg, und dass meine Eltern mir den Namen Solrun gegeben haben, war nicht einfach aus der Luft gegriffen, es war ein wenig von diesem familiären Hintergrund inspiriert.
     
    Jetzt sind wir wieder hier, alle vier, bevor in wenigen Tagen wieder Schule und Alltag über uns bestimmen. Ingrid hat gerade ihr Abitur gemacht. Dafür, dass wir uns am offenen Meer befinden, ist es ungewöhnlich windstill, darum konnten wir gestern ausnahmsweise einmal im Garten sitzen und grillen.
     
    Die Welt ist kein Mosaik aus Zufällen, Steinn. Sie hängt zusammen.
     
    Wie schön, dass du antwortest, und es hat zum Glück nicht lange gedauert. Bis deine Stimmung sich gebessert hatte, meine ich.
     
    Aber was für eine Vorstellung, dass du jetzt wirklich dort draußen bist. Dann ist es so, als wäre ich auch selbst ein wenig dort, wenn wir einander mailen. Ich vertrete nämlich durchaus die Ansicht, dass zwei Menschen einander nahe sein können, obwohl die physische Entfernung zwischen ihnen groß ist. Insofern stimme ich dir zu, dass die Welt zusammenhängt.
    Wie rührend, dass du an dem Morgen zum Strandkai gegangen bist, um mir mit der Schnellfähre einen Gruß zu schicken. Ich kann dich fast vor mir sehen, wie du die vielen
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