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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz
Autoren: Susan Hill
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einstieg und mich auf dem Sitz zurücklehnte. Mit einem Seufzer der Erleichterung, der fast wie ein Schluchzer klang, verließ ich Crythin Gifford.

    Meine Geschichte ist fast zu Ende. Nur eines muss ich noch erzählen. Und das niederzuschreiben, kostet mich alle erdenkliche Kraft. Ich habe Tag um Tag, Nacht um Nacht hier an meinem Schreibtisch vor einem leeren Blatt Papier gesessen, ohne die Feder heben zu können. Ich habe gezittert und auch geweint. Ich bin immer wieder hinausgegangen und in dem alten Obstgarten herumspaziert und nach draußen, querfeldein, Kilometer um Kilometer gewandert, ohne die Umgebung wahrzunehmen, ohne einen Vogel oder sonst ein Tier zu sehen, ja, ich hätte nicht einmal sagen können, wie das Wetter war, weshalb ich zu Esmés Bestürzung auch manches Mal nass bis auf die Haut heimgekommen bin. Das war eine weitere Sache, die mich bedrückte: Sie hat mich beobachtet und sich Gedanken gemacht, doch aus Feingefühl keine Fragen gestellt. Ich habe die Sorgen und den Kummer in ihrem Gesicht gesehen und ihre Unruhe gespürt, wenn wir spätabends noch zusammensaßen. Ich war nicht imstande, es ihr zu erzählen. Sie hat keine Ahnung, was ich durchgemacht habe und warum, und sie wird es auch nicht erfahren, bis sie dieses Manuskript liest. Aber zu diesem Zeitpunkt werde ich bereits tot sein.
    Doch jetzt habe ich den Mut, den Rest meiner Kraft zu nutzen – sie hat sich erschöpft, als ich beim Niederschreiben das schreckliche Grauen der Vergangenheit erneut durchlebte –, um das Ende meiner Geschichte aufzuschreiben.

    Stella und ich kehrten nach London zurück und heirateten in den nächsten Wochen. Ursprünglich hatten wir bis zum kommenden Frühjahr warten wollen, doch meine Erlebnisse hatten mich so sehr verändert, dass ich regelrecht spürte, wie die Zeit drängte, und überzeugt davon war, dass wir nicht warten sollten, sondern unser Glück und alle Möglichkeiten, die sich uns boten, sofort beim Schopf packen und festhalten sollten. Warum sollten wir auch warten? Was außer materialistische Gründe, die mein Einkommen, ein eigenes Haus und sonstigen Besitz betrafen, sollte uns abhalten, uns gleich trauen zu lassen? Nichts. Und so heirateten wir ohne Aufhebens und wohnten in meinen möblierten Zimmern. Meine Wirtin vermietete uns noch ein weiteres Zimmer, bis wir uns ein eigenes Häuschen würden leisten können. Wir waren so glücklich, wie ein junges Paar nur sein kann, zufrieden, wenn wir beieinander waren, nicht reich, aber auch nicht arm, geschäftig und freuten uns auf unsere gemeinsame Zukunft. Mr. Bentley übertrug mir etwas mehr Verantwortung und erhöhte im Lauf der Zeit auch mein Gehalt. Ich hatte ihn ausdrücklich gebeten, nicht über Eel Marsh House und den Drablowschen Besitz sowie die Papiere mit mir zu sprechen. Er tat es nicht, und so fielen die Namen nie mehr in meiner Gegenwart.
    Ein gutes Jahr nach unserer Vermählung brachte Stella unseren Sohn zur Welt, den wir Joseph Arthur Samuel nannten, und Mr. Daily war sein Taufpate. Er war unsere einzige Verbindung zu jenem Ort und jener Zeit. Doch obwohl wir uns hin und wieder in London trafen, erwähnte er die Vergangenheit mit keinem Wort. Ich war so glücklich und zufrieden mit meinem Leben, dass ich keinen Gedanken mehr an das Geschehene vergeudete, und auch die Alpträume hatten vollends aufgehört.
    Besonders glücklich war ich, als wir im Jahr nach der Geburt unseres Sohnes einen kleinen Sonntagsausflug machten. Das, was kommen sollte, hätte mich nicht unvorbereiteter treffen können …
    Wir waren zu einem großen Park gefahren, etwa fünfzehn Kilometer außerhalb von London, der zum Anwesen eines fürstlichen Hauses gehörte und an den Wochenenden im Sommer für die Öffentlichkeit geöffnet war. Es herrschte Festtagsstimmung, mit Ruderbooten konnte man auf den kleinen See hinausfahren, eine Musikkapelle spielte fröhliche Lieder, an Ständen konnte man Eis und Obst kaufen. Familien genossen Spaziergänge im Sonnenschein, Kinder tollten im Gras herum. Stella und ich hielten unseren kleinen Joseph an den Händen, der ein paar unsichere Schritte versuchte, und wir waren so stolz und glücklich darüber, wie Eltern nur sein konnten.
    Da bemerkte Stella, dass unter den angebotenen Attraktionen auch ein Esel war, auf dem man reiten konnte, und ein Einspänner, der zu einer Fahrt durch eine Kastanienallee einlud. Wir dachten, Joseph würde Spaß daran haben, auf dem sanften grauen Esel zu sitzen. Doch als ich ihn in
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