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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz
Autoren: Susan Hill
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Antworten auf viele andere Fragen gefunden. Und obwohl ich nun mehr wusste, befriedigte mich diese Entdeckung nicht, sondern beunruhigte, ja verängstigte mich. Ich wusste es – und wusste es doch nicht genau. Ich war verwirrt, und für nichts gab es eine richtige Erklärung. Denn wie kann es so etwas geben? Ich habe bereits erwähnt, dass ich nicht mehr an Geister glaubte als jeder andere junge Mann mit guter Erziehung, durchschnittlicher Intelligenz und einer Neigung zu Sachlichkeit und Nüchternheit. Aber ich hatte Geister gesehen. Eine Begebenheit, eine schreckliche, tragische, die sich vor vielen Jahren zugetragen hatte, wiederholte sich auf unerklärliche Weise immer wieder in einer anderen Dimension. Ein Pferdewagen, in dem ein sechsjähriger Junge namens Nathaniel saß, der adoptierte Sohn von Mr. und Mrs. Drablow, sowie sein Kindermädchen, hatte im Nebel irgendwie einen falschen Weg genommen, war von dem sicheren Damm in die Marsch geraten und im Schwemmsand und der steigenden Flut versunken. Kind und Kindermädchen waren ertrunken, und wahrscheinlich auch der Kutscher und das Pferd. Und nun wiederholte sich auf dieser Marsch der gleiche schreckliche Vorfall wie ein Spuk, ein Schatten, eine Erinnerung daran, irgendwie immer und immer wieder – wie oft, wusste ich natürlich nicht. Und es war nicht zu sehen, lediglich zu hören.
    Die einzige andere gesicherte Tatsache war, dass die leibliche Mutter des Jungen, Jennet Humfrye, zwölf Jahre nach ihrem Sohn an Herzversagen gestorben war und beide auf dem jetzt nicht mehr benutzten, zerfallenen Friedhof bei Eel Marsh House beerdigt waren; dass das Zimmer des Kindes in diesem Haus so erhalten worden war, wie der Junge es verlassen hatte, mit seinem Bett, seiner Kleidung, seinen Spielsachen; und dass seine Mutter dort umherging. Außerdem, dass die Intensität ihrer Trauer, ihres Leides, aber auch ihres aufgestauten Hasses und ihrer Rachsucht im Haus und draußen in der Marsch spürbar waren. Und genau das war, was mich so beunruhigte, denn ich spürte, dass diese Affekte die Kraft hatten, zu schaden. Aber wem zu schaden? Denn waren jetzt nicht alle tot, die mit der traurigen Geschichte zu tun gehabt hatten? Höchstwahrscheinlich war Mrs. Drablow die Letzte von ihnen gewesen.
    Als ich müde wurde, kehrte ich um. Obwohl ich mir keinen Reim auf das Ganze machen konnte – wahrscheinlich, weil es einfach keine Erklärung gab –, ging es mir nicht aus dem Kopf, und ich dachte auf dem ganzen Heimweg darüber nach und grübelte auch noch in meinem stillen Zimmer, während ich in den dunklen Abend hinausstarrte. Als mich der Gong zum Abendessen rief, war ich so unruhig, dass ich beschloss, Mr. Daily alles zu berichten und zu verlangen, dass er mir wiederum alles erzählte, was er über die Sache wusste oder auch nur als Gerücht je darüber gehört hatte.

    Es war wie zuvor: nach dem Abendessen in Mr. Dailys Arbeitszimmer, wir beide in den bequemen Ohrensesseln und zwischen uns auf dem Tischchen die Karaffe und Gläser. Nach dem guten Essen fühlte ich mich besser. Ich war gerade zum Ende meiner Geschichte gekommen. Mr. Daily hatte mir zugehört, das Gesicht von mir abgewandt, ohne mich auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen, während ich beim Erzählen mit überraschender Ruhe noch einmal sämtliche Erlebnisse während meines kurzen Aufenthalts in Eel Marsh House durchmachte, bis zu dem Augenblick, als er mich am frühen Morgen besinnungslos vor dem Haus gefunden hatte. Ich erzählte ihm auch von meinen Folgerungen, zu denen ich durch die Briefe und Sterbeurkunden gekommen war.
    Mehrere Minuten sagte er gar nichts. Die Uhr tickte laut. Das Holz brannte gleichmäßig und würzig im Kamin. Spider lag auf dem Läufer davor. Das Erzählen war befreiend gewesen, nun fühlte mein Kopf sich seltsam leicht an und mein Körper schlaff wie nach einem Schock oder Fieberanfall. Aber ich dachte, dass es von diesem Augenblick an nur besser werden konnte, denn nun würde ich mich, Schritt um Schritt, von diesen schrecklichen Geschehnissen entfernen.
    »Nun«, sagte Mr. Daily schließlich. »Sie haben einiges durchgemacht, seit jener Nacht, in der ich Sie im Zug kennenlernte.«
    »Mir kommt es vor, als wäre es hundert Jahre her. Als wäre ich ein anderer Mensch.«
    »Sie sind durch rauhe See gesegelt.«
    »Und nun herrscht die Ruhe nach dem Sturm, und das Ganze ist vorbei.«
    Ich sah seine Besorgnis.
    »Kommen Sie«, sagte ich tapfer, »Sie glauben doch nicht, dass
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