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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz
Autoren: Susan Hill
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noch etwas Schlimmes geschehen kann? Ich habe nicht die Absicht, mich noch einmal dorthin zu begeben. Nichts könnte mich dazu bringen.«
    »Nein.«
    »Dann ist jetzt alles vorbei.«
    Er antwortete nicht, sondern lehnte sich nur vor und goss sich noch ein wenig Whisky ein.
    »Allerdings frage ich mich, was mit dem Haus geschehen wird?«, sagte ich. »Ich bin sicher, dass kein Einheimischer je darin wohnen will. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Leute von außerhalb lange bleiben, wenn sie erst wissen, wie es dort wirklich ist – selbst wenn sie zuvor keine der Geschichten gehört haben. Außerdem ist es ziemlich ungemütlich da draußen. Also, wer könnte es schon wollen?«
    Samuel Daily schüttelte den Kopf.
    »Glauben Sie«, hakte ich nach, nachdem wir uns beide stumm unseren Gedanken hingegeben hatten, »dass die arme alte Frau Tag und Nacht vom Geist ihrer Schwester belästigt wurde und diese schrecklichen Geräusche da draußen hören musste?« Mr. Daily hatte mir inzwischen gesagt, dass die beiden Schwestern gewesen waren. »Wenn es so war«, fuhr ich fort, »frage ich mich, wie sie das ertragen hat, ohne wahnsinnig zu werden.«
    »Vielleicht hat sie es nicht.«
    »Vielleicht.«
    Ich spürte immer mehr, dass er mir etwas verheimlichte – eine Erklärung oder Einzelheit über Eel Marsh House und die Familie Drablow –, und ich wusste, ich würde keine Ruhe finden, ehe ich nicht alles herausgefunden hatte. Ich beschloss, ihn so lange zu bedrängen, bis er mir alles erzählte.
    »Gibt es noch etwas, das mir bis jetzt verborgen geblieben ist? Wäre ich auf weitere schreckliche Dinge gestoßen, wenn ich im Haus geblieben wäre?«
    »Das weiß ich nicht.«
    »Aber irgendetwas könnten Sie mir noch sagen!«
    Er seufzte, rutschte unbehaglich in seinem Sessel herum und blickte ins Feuer, um mich nicht ansehen zu müssen, dann streckte er ein Bein aus und rieb Spiders Bauch mit einer Stiefelspitze.
    »Kommen Sie! Wir sind weit weg von dem Haus, und meine Nerven haben sich beruhigt. Ich muss es wissen. Es kann mir jetzt nichts mehr anhaben!«
    »Nicht Ihnen«, sagte er. »Nein, vielleicht nicht Ihnen.«
    »Um Himmels willen, was verheimlichen Sie mir? Was ist es, worüber Sie nicht mit mir reden wollen?«
    »Sie, Arthur«, sagte er, »werden morgen oder übermorgen nicht mehr hier sein. Sie werden, wenn Sie Glück haben, nie wieder von diesem verfluchten Ort hören oder ihn wiedersehen. Wir aber müssen bleiben. Wir müssen damit leben.«
    » Womit? Den Geschichten? Gerüchten? Mit dem Anblick der Frau in Schwarz, dann und wann? Womit? «
    »Mit dem, was zweifellos folgen wird. Früher oder später. Crythin Gifford hat seit fünfzig Jahren damit gelebt. Es hat die Menschen hier verändert. Sie sprechen nicht davon. Das haben Sie selbst bemerkt. Und am wenigsten jene, die am meisten gelitten haben – Jerome, Keckwick.«
    Ich spürte, wie mein Herz wieder viel zu schnell pochte. Ich lockerte meinen Kragen ein wenig und zog meinen Sessel vom Kamin zurück. Nun, da es so weit war, war ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich tatsächlich hören wollte, was Mr. Daily zu sagen hatte.
    »Jennet Humfrye musste ihr Kind ihrer Schwester Alice Drablow und Alice’ Ehemann geben, weil sie keine andere Wahl hatte. Zuerst hielt sie sich fern – Hunderte von Kilometern. Der Junge wurde als Drablow aufgezogen und sollte nie erfahren, wer seine leibliche Mutter war. Aber schließlich, als der Schmerz der Trennung von ihm nicht nachließ, sondern im Gegenteil immer schlimmer wurde, kehrte Jennet nach Crythin zurück. In ihrem Elternhaus war sie nicht willkommen, und der Mann – der Kindsvater – war ausgewandert. Sie mietete sich verschiedene Zimmer in Crythin Gifford, aber sie hatte kaum Geld. So begann sie, Näharbeiten anzunehmen, und wurde die Gesellschafterin einer älteren Dame. Anfangs gestattete Alice Drablow ihr nicht, den Jungen auch nur zu sehen. Jennet war so verzweifelt, dass sie drohte, Gewalt anzuwenden. Schließlich ließ sich ihre Schwester so weit erweichen, dass Jennet hin und wieder zu Besuch kommen, aber den Jungen nie allein sehen oder ihm sagen durfte, wer sie war oder dass sie mit ihm verwandt war. Dummerweise hat niemand vorher bedacht, dass er ihr so ähnlich sehen würde, auch nicht, dass ihre natürlichen Bande sich als so stark erweisen könnten. Er begann, immer mehr an der Frau zu hängen, die ja immerhin, auch wenn er es nicht wusste, seine leibliche Mutter war, und in dem Maß, in
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